Core by Clare Smyth – klassischer Kern
Eine Reservierung im Core by Clare Smyth gehört in Europa zu den komplizierteren. Der Prozess ist bei weitem nicht vergleichbar mit Kalibern wie The French Laundry, aber wer nicht genau neunzig Tage im Voraus bei OpenTable auf den Moment lauert, an dem die Reservierungen freigegeben werden, sollte für den avisierten Abend andere Pläne schmieden.
Clare Smyth, die bereits in Gordon Ramsays Flaggschiffrestaurant über viele Jahre drei Michelin-Sterne hielt, eröffnete ihr eigenes Restaurant im Jahr 2017. Seit 2021 leuchten drei Sterne über dem Restaurant im Londoner Stadtteil Notting Hill. (Genau diese Straßenkreuzung ist sogar kurz in dem bekannten Film mit Julia Roberts zu sehen.)
Das Restaurant ist mit ungefähr einem Dutzend recht eng gestellter Tische (und einem chef’s table, der für Gruppen von 8-10 Personen buchbar ist) kleiner als ich dachte. Dennoch werden hier über mehrere seatings bestimmt an die hundert Gäste jeden Abend bedient. Die Atmosphäre ist durch sehr gedämpftes Licht zwar gemütlich, aber zu meiner späten Reservierungszeit um halb zehn ist es derart warm und stickig, dass ich den Abend nicht genießen könnte, wenn hier nicht mal jemand die Klimaanlage ein paar Grad runterdreht. Ich finde es merkwürdig, wenn sich (in einem Restaurant dieser Klasse) kein Belüftungs- oder Temperaturkonzept erkennen lässt, besonders auch nach den vergangenen Jahren.
Es wird schnell besser. Auch, dass die erste Person, die an den Tisch kommt, ein gut gelaunter Sommelier ist, charmanter Franzose noch dazu, ist erfrischend. Er hält auch viel von meiner Idee, anstatt eines klassischen Aperitifs gleich mit zwei Flaschen Wein loszulegen – eine rot, eine weiß. Das kommt mir in letzter Zeit öfter in den Sinn, und es ist eine ganz hervorragende Sache.
Meine Wahl fällt heute Abend auf einen 2019er Kongsgaard Chardonnay aus dem Napa Valley (295 £, ca. 333 €) und einen 2017er Côte-Rôtie »La Barbarine« von der Domaine Gangloff (ca. 249 €). Beides sind Volltreffer – und das auch nur, weil ich bereits genug Zeit hatte, in der online verfügbaren Karte zu stöbern.
Nachdem das Basis-Setup steht, widme ich mich intensiver der aufklappbaren Speisekarte. Sie enthält die siebengängigen Menüs Core Classics (ca. 232 €), Core Seasons (ca. 254 €) sowie einen A-la-carte-Teil, der einer Schnittmenge aus beiden Menüs entspricht und pauschal mit ca. 198 € für drei Gänge zu Buche schlägt. Erstaunlicherweise sind die Preise der Londoner Drei-Sterne-Restaurants im internationalen Vergleich eher moderat. Aufgrund der für mich heute Abend etwas attraktiveren Hauptzutaten fällt meine Wahl auf das Menü Core Seasons.
Erste Appetizer erreichen den Platz. Eine Nori-Tartelette mit geräuchertem Aal und Malzessig ist betont kühl, fein gearbeitet, aber trotz des Räucherfischs ein wenig verhalten – auf dennoch hohem Niveau (7,5/10). Ein Gougère mit Erbse und Minze ist warm, leicht wie eine Wolke und mit dem erfrischenden Akzent von der Minze ein überraschender Hochgenuss (8,5/10).
Eine kurzweilige lobster roll mit pochiertem schottischem Hummer von hervorragender Qualität und würzig-frischem Estragon-Dressing (8,5/10) sowie eine Tartelette mit cremiger Foie Gras und fruchtig-süßem Madeira-Gelee (8,5/10) bleiben auf exzellentem, aber auch nicht bahnbrechenden, Niveau.
Schottischer Kaisergranat ist dann der Protagonist des ersten Gangs. Er ist in einem »Ring« von getupften Cremes angerichtet: eine mit Wasabi und Erbse, die andere mit Mandel und Geranie. Hinter der recht manieriert erscheinenden Anrichtweise steckt der kulinarische Sinn, dass man die Cremes zwangsweise immer so portioniert, dass man von beiden etwas abbekommt – und dabei auch so, dass sie erst am Gaumen wirklich zusammenkommen. Tatsächlich spielt sich hier Großartiges ab. Der Kaisergranat ist von phänomenaler Qualität und Garung und ergibt zusammen mit Erbse und Geranie ein minzig-florales Aromabouquet, bei dem die Mandel die Brücke zum nussigen Krustentier schlägt. Das ist besonders harmonisch und durch die mit einigen Blütenblättern noch weiter betonte Floralität sehr elegant. (9/10)
Es folgen geschmorte Morcheln von stattlicher Größe, die mit geschmorter Entenkeule und Entenherz gefüllt sind – eine herzhafte, üppige Melange. Die edlen Pilze sind in einem dichten, duftenden Morchel-Jus angerichtet, der mit sehr aromatischem Thymian und Schiefem Schillerporling (chaga root) aromatisiert ist. Dieser seltene Pilz, den der Service vorher sogar separat an einem Stück Baumstamm präsentiert, versieht den Sud mit einer unerwarteten, aber hervorragend passenden Süße. Qualitäten, Handwerk und Wohlgeschmack sind hier erneut auf höchstem Niveau. (9/10)
Mit einer Tranche Steinbutt aus Cornwall präsentiert die Küche eine weitere klassische »Gourmet-Zutat«. Der Fisch ist à la Marinière angerichet, das heißt in diesem Fall in einer Sauce auf Basis eines Kochsuds von Fischfond, Weißwein, Lauch – sowie Miesmuscheln und Algen. Ein leicht pikantes Öl ergänzt die mediterrane, maritime Geschmackswelt. Aromatisch bemerkenswert ist auch die Integration eines subtilen Laucharomas. Man wähnt sich fast, eine Muschelsuppe in Südfrankreich zu genießen. Schade nur: Der Steinbutt selbst ist zwar von einer Qualität, die viele Makel kaschiert; doch eine etwas zu lange Garung sowie eine zu geringe Temperatur des Gerichts nagen an dem potenziellen Weltklasseniveau. (8,5/10)
Es geht weiter mit Kalbsbries. Ein etwa golfballgroßes, knusprig gebratenes Stück der delikaten Innerei ist hier auf einem Stück geschmortem und mit sehr präsentem Thymian aromatisierten Kohlrabi (aus Norfolk) angerichtet. Eingerahmt ist das Ganze von einer elegant interpretierten Honig-Senf-Sauce, was ein gefälliges, leicht liebliches Geschmacksbild ergibt, ohne dabei den Aspekt der Herzhaftigkeit aus den Augen zu verlieren. Komponenten wie Blüten, Kräuter und weiterer Kohlrabi bieten dazu frische Kontraste. Überraschend unkonventionell ist die festere, etwas kaubedürftige Ummantelung des Bries, die ein wenig an manch asiatische Zubereitungsart mit Reisteig erinnert. Das ist mir hier eine Nuance zu knusprig, weil die feine Konsistenz der zarten Innerei dabei etwas in den Hintergrund rückt. Dennoch ist das gesamte Niveau des Gerichts sehr hoch und bereitet vor allem durch sein fast bodenständiges Geschmacksbild großen Genuss. (8,9/10)
Der letzte herzhafte Gang ist Lamm aus Herdwick (im Lake District), das im klassischen Zweiklang »geschmort/gebraten« präsentiert wird. Die Qualität des Fleischs ist bemerkenswert hoch, was man besonders gut an den weißen Fetteinschlüssen des Karrees erkennen kann. Ein geschmorter Salatkopf, verschiedene Kräuter, Kardamom und Minze begleiten die Fleischdarbietungen. Schon nach ein, zwei Gabeln ist das Weltklasseniveau des Gerichts offenkundig. Das knackige, warme Salatherz lockert das geschmorte Fleisch etwas auf, während das gebratene Stück mit makelloser Garung und authentischem, feinem Lammaroma begeistert. Auch der Salzgehalt ist perfekt justiert. Kardamom und Minze bringen etwas Exotik ins Spiel, ohne das Thema überzustrapazieren; die Minze wirkt eher distinguiert englisch. Der etwas schlankere Jus betont die zeitgemäße Umsetzung. Es ist ein perfektes Lammgericht auf höchstem Niveau. (9/10)
In Anlehnung an ein berühmtes Karottengericht der Küchenchefin folgt an dieser Stelle mit The other carrot ein Gang zwischen Herzhaftem und Süßem. In einer Hülle aus Karotte und Ingwer befindet sich eine Quarkzubereitung, dazu gibt es ein Karotteneis sowie einige knusprige Elemente wie Walnuss. Die Kreation ist handwerklich sehr präzise, wirkt aber recht »technisch« und aromatisch etwas in dem Karottenthema gefangen. Probierte man davor im Menü die herzhafte Version der Karotte, würde das hier vermutlich etwas schlüssiger wirken. (7/10)
Etwas forciert benannt ist das folgende Dessert namens »Core-teser«, das damit zur englischen Schokoladensüßspeise Malteser Bezug nimmt. Wie bei der Praline, steht auch hier eine Kreation mit weicher Schokoladenhülle und knusprigem Kern im Mittelpunkt. Dazu gibt es weitere filigrane, knusprige Komponenten aus Malz, die an karamellisierte Zuckerwatte erinnern, sowie Segel aus Haselnussschokolade. Die hervorragende Schokolade, die eher gefällig süß als anspruchsvoll bitter daherkommt, ergibt im Zusammenhang mit den knusprigen Komponenten und Schichten ein makelloses, aber auch etwas mächtiges, Schokoladendessert. (8,9/10)
Den Abschluss machen einige kurzweilige Weingummis mit Sauternes und Banyuls sowie ausgezeichnete, mit heißer, flüssiger Schokolade gefüllte Tartelettes. (8,5/10)
Es endet damit ein in weiten Teilen perfektes, wohlschmeckendes und unaufgeregtes Menü mit zeitgemäß umgesetztem französischem Fokus. Man könnte auch sagen: Besonders spannend war es nicht. Aber angenehm und exzellent. Das ist manchmal auch schon eine Reise wert.