Japan 2023 – Logbuch

11. Juli: Verpasster Anruf

Am Morgen zeigt mein iPhone einen verpassten Anruf an, Landesvorwahl +81: Japan. Aus Japan will man keinen Anruf verpassen, wenn man zehn Monate lang eine Reise mit Restaurant-Reservierungen geplant hat, die möglicherweise an einem seidenen Faden hängen, wenn man sich nicht richtig verhält. Es ist halb sieben Uhr morgens, der Anruf ist erst eine Viertelstunde her, früher Nachmittag in Japan. Ich rufe zurück, frage, ob man Englisch spricht, was man bejaht. Den Restaurantnamen verstehe ich trotzdem erst nach zweimaligem Nachfragen und der Deduktion, dass es sich um eines der etwas internationaler aufgestellten Restaurants handeln muss. Die traditionellen Läden rufen einem nicht hinterher. Das Restaurant war längst bestätigt über den Online-Dienst Omakase. Jetzt trotzdem noch mal die telefonische Bestätigung. Ja, ich werde da sein. Nächsten Mittwoch, im L’Efferverscence, neuntausend Kilometer entfernt (mindestens). Langsam wird es ernst.

14. Juli: die Reise

Mir war von vornherein klar, dass der Flug von Hamburg nach Frankfurt die größte Herausforderung darstellen wird. Ferienbeginn, noch immer mangelndes Flughafenpersonal, Streiks, fehlende Organisation an allen Check-In-Schaltern, Verspätungen. Gegen all diese Dinge helfen naturgemäß auch nicht einmal die komfortabelste Reiseklasse. Es ist dennoch beklagenswert, dass es selbst im diesem Fall erst an Bord der Langstrecke bequem wird. Aber am Ende klappt alles. Ein Reiseführer aus Japan stimmt mich am Boden auch schon etwas ein. Das Kapitel »Sommer« bereitet mich gedanklich auf schwüle 37 °C vor, die mich die nächsten Tage am Ziel erwarten. »Atsui« (»es ist heiß«) soll in Japan jetzt das Wort der Stunde sein. Ich merke mir das schon mal.


Einige Stunden später fliege ich über Qusar, Aserbaidaschan, in 35.000 Fuß Höhe. Es sind laut Anzeige noch 7 593 km bis nach Tokio. Das Essen an Bord ist okay, natürlich, man will sich nicht beklagen. Kaviar und so. Andererseits ist das für eine First Class alles ziemlich enttäuschend. Die Vorspeisen waren kaum essbar; die Weinkarte ist so drittklassig wie eh und je. Nein, das sind keine ernsten Probleme, aber dennoch Probleme des Premium-Produkts von Lufthansa.

Viel ernster ist die E-Mail, die mich gerade erreicht. Das Zwei-Sterne-Restaurant Sézanne in Tokio musste alle Reservierungen am kommenden Wochenende aufgrund eines »Notfalls in der Küche« stornieren. Zum Glück habe ich Internet an Bord. Ich antworte schnell, verschiebe die Reservierung auf ein Mittagessen am nächsten Donnerstag. Ich bin viel zu gespannt auf die Küche von Daniel Calvert, um hier eine Absage in Kauf zu nehmen. Aber was mache ich jetzt mit meinem zweiten Abend in Tokio?

15. Juli: bei Ankunft drei Sterne

Im Hotel klärt sich alles.

Obwohl ich mich von dem Schock, im spektakulären AMAN Tokyo einzuchecken, noch nicht erholt habe und ich mich gerade eher nach drei Uhr morgens als drei Uhr nachmittags fühle, suche ich als erstes die freundlichen Concierges auf, die ich bisher nur per E-Mail kennen gelernt habe.

Die freundliche Mio erkundet mit mir einige Optionen wegen meiner morgigen Reservierungslücke. Ich werfe wieder mit ein paar großen Namen um mich: Sugita, Saito, Sawada usw. Vielleicht geht ja doch was. Unmöglich, erklärt Mio-san. Viele der besten Restaurants seien nur noch exklusive Mitgliederclubs, bestätigt sie. Erschwerend kommt hinzu, dass morgen Sonntag ist – auch in Tokio haben dann viele interessante Restaurants geschlossen. Nach einigem Hin und Her dann eine Lösung: Küchenchef Masaaki Miyakawa, dessen nach ihm benanntes Sushi-Restaurant in Hokkaido zuletzt mit drei Michelin-Sternen bewertet war (bevor der Guide Michelin aufhörte, in dieser Region zu publizieren) hat im Hotel Mandarin Oriental einen neuen Ableger namens Sushi Shin by Miyakawa. Damit scheint der Abend morgen gerettet zu sein.


Nach zwei sich eher nach Ohnmacht als nach Schlaf anfühlenden Stunden ist es dann soweit. Das erste kulinarische Abenteuer dieser Reise kann beginnen.

Der Ausblick aus dem Hotelzimmer ist atemberaubend. Wer einmal von dem rot blinkenden Hochhausmeer Tokios in den Bann gezogen wurde, kommt davon nie wieder los. Wie sehr ich diesen Anblick vermisst habe.

Mit dem Taxi geht es dann ins Azabu Kadowaki, ein Drei-Sterne-Restaurant in einer kleinen Gasse im Bezirk Azabu. Mir kommt das hier bekannt vor. Und in der Tat: Das Restaurant Azabu Yukimura, das ich vor einigen Jahren besucht habe, befindet sich gleich hier um die Ecke. Es war ebenfalls lange mit drei Sternen ausgezeichnet, ist inzwischen aber aus dem Restaurantführer verschwunden: auch nur noch für Mitglieder.

In den folgenden knapp eineinhalb Stunden – es geht etwas schnell – gelange ich in dem winzigen Lokal in den Genuss von Düften, Aromen, Qualitäten und Bräuchen, die man nur in Japan erleben kann. Ob die umgerechnet knapp fünfhundert Euro für das Menü gerechtfertigt sind, steht auf einem anderen Blatt, aber eine Reise wert war schon dieser erste Abend. (Hier der Bericht.)

16. Juli: Pizza und Sushi

Draußen sind es 35 Grad im Schatten: genau das Richtige für ein Mittagessen, bei dem Hitze die zentrale Rolle spielt. Aber meine Reservierung steht schon lange.

Die Rede ist vom Pizza Studio Tamaki, dessen erste Filiale ich schon vor einigen Jahren besucht habe und die Pizza seitdem nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Der neuere Standort, den ich heute besuche, befindet sich im mit etwas mehr Flair behafteten Stadtteil Roppongi.

Direkt vor mir am Tresen verwandelt der Pizzabäcker Teigrohlinge mit mysteriösen Handbewegungen zu fast fertigen Pizzen. Den Rest erledigt der selbstgebaute Ofen in nur 60-70 Sekunden. Und bloß keine Angst vor etwas verbrannten Stellen: Es handelt sich dabei um filigrane Luftblasen, die bei erster Berührung zu Staub zerfallen. Drei hervorragende Pizzen später (natürlich nicht allein) geht es wieder hinaus in die sengende Hitze.


Am Abend steht die improvisierte Reservierung im Sushi Shin by Miyakawa auf der Agenda. Das Restaurant befindet sich im 37. Stock des Hotels Mandarin Oriental. Hier werde ich an meinem letzten Reisetag – in knapp zwei Wochen – auch noch einmal einchecken, wenn es von Tokio wieder zurück nach Deutschland geht. (Nur mit einer Zimmerreservierung kam ich nämlich Monate zuvor an eine Reservierung in einem weiteren gefeierten Pizza-Restaurant, dem The Pizza Bar on 38th; dazu dann bald mehr.)

Da sich das Sushi Shin in einem internationalen Hotel befindet, hat man sich hier auf ein entsprechendes Publikum eingestellt. Man spricht etwas Englisch, erläutert viel, vermeidet japanische Bezeichnungen für die Fische und hat sogar ein Foto parat, wie man am besten Nigiri zu sich nimmt. Es kommt dabei schon ein wenig Fremdscham in mir auf, bin ich doch gerade in Japan um so viel Authentizität wie möglich bemüht. Doch am Ende kann hier nichts von der Tatsache ablenken, dass heute Abend ein hervorragendes Mahl in einer einzigartigen, edlen und freundlichen Atmosphäre serviert wird. Von den otsumami (Vorspeisen) bis zum Sushi ist alles auf sehr hohem Niveau. Nur der Guide Michelin schweigt zu diesem Restaurant noch. Beseelt von dem Essen und von allem, was noch vor mir steht, spaziere ich bei immer noch schwülwarmen 32 Grad zurück zum Hotel. (Hier der gesamte Bericht.)

17. Juli: Nuancen und Olivenöl

Der Unterschied zwischen dem, was man in Deutschland als »Sushi« vermarktet und authentischem Sushi ist weit größer als der zwischen Äpfel und Birnen. Aber die Unterschiede zwischen sehr gutem, hervorragendem und außerweltlichem Sushi sind subtil und müssen erlebt werden. Auch, welche Attribute dem Stil des Küchenchefs, den persönlichen Präferenzen und dem handwerklichen Niveau zuzuschreiben sind, erfährt man nur durch viel Probieren.

Heute Mittag habe ich eine Reservierung im Kioicho Mitani, dem Schwesterrestaurant des noch schwieriger zu buchenden Sushi Mitani. Das Mahl beginnt mit sehr guten, aber auch sehr gehaltvollen Vorspeisen; das danach servierte Sushi kann handwerklich nicht mit dem Erlebnis von gestern Abend mithalten. Unstimmige Proportionen, kontrastvolle (statt harmonische) Temperaturen, zu schnell, zu viel. Und dass ich jetzt schon zum zweiten Mal mit der zweifelhaften Zutat Haifischflosse konfrontiert wurde, zuerst im Azabu Kadowaki, hat auch einen Beigeschmack. Fünf Stunden später bin ich immer noch unangenehm gesättigt; das Gegenteil ist bei Essen dieser Art eigentlich der Normalfall. (Hier der gesamte Bericht.)


Bei einer so umfangreichen Agenda, die neben dem Kulinarischen auch noch mit ganz anderen Aktivitäten gemischt ist, tut es gut, mal im Hotel zu bleiben. Die fast unerträgliche Hitze bei hoher Luftfeuchtigkeit tut ihr Übriges. Daher bin ich über meinen Plan erleichtert, heute Abend im italienischen Hotelrestaurant Arva einzukehren.

Die Atmosphäre ist einzigartig, der Service herzlich und das Essen gut – nicht überwältigend. Dennoch genieße ich es, zwischendurch mal an einem regulären Tisch zu sitzen und etwas Focaccia in Olivenöl zu stippen. Der japanische Pinot Noir vom Weingut Mie Ikeno ist sogar eine Offenbarung. Buona notte.

18. Juli: Ramen und Ayu

Um kurz nach 9 Uhr setzt mich das Taxi an einer unauffälligen Straßenkreuzung im Stadtteil Ginza ab, etwas abseits des Shopping-Trubels. Hier befindet sich ein winziges Ramen-Restaurant namens Ginza Hachigou. Es ist mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet und so populär, dass man oft in einer sehr langen Schlage anstehen muss, um dann erst eine tatsächliche Essenszeit zugewiesen zu bekommen.

Dass heute, nach einem Feiertag, der erste Werktag dieser Woche ist und die Temperaturen schon jetzt am Morgen auf 36 Grad im Schatten (von dem hier keiner ist) geklettert sind, spielt mir heute offenbar in die Karten. Es ist kaum jemand hier, ich muss nur eine halbe Stunde warten und kann dann auch bereits um halb elf zum Essen wiederkommen. Normalerweise geht es erst um elf los. Das Ramen ist hervorragend. Der Küchenchef hat lange Jahre in Frankreich gelebt und setzt sein Ramen mit einem westlichen Twist auf Basis von Hühnerfond um. Das ist genau das richtige Frühstück, denn um die skurrile Uhrzeit 17 Uhr habe ich schon meine nächste Reservierung.


Gegen halb fünf sitze ich wieder im Taxi. Was mich gleich im dreifach besternten Sazenka erwartet, weiß ich nicht; meine Recherchen halten sich, wie üblich, absichtlich in Grenzen. Ich weiß lediglich, dass ein Japaner hier seine Passion für chinesische Küche umsetzt und sich das auch fürstlich bezahlen lässt. Menüs kosten zwischen 270 € und 630 € [sic!]. Zu den Hintergründen dann mehr im Bericht.

Was sich dann in kommenden frühen Abendstunden hier abspielt, ist ein kulinarisches Fest voller Überraschungen. Von lebendig präsentiertem Ayu über kostbarste Abalone bis zu diamantartig funkelndem Reis zu gedämpften Schwein mit Aubergine verlasse ich das geschmackvoll eingerichtete Restaurant aufgewühlt und erfreut. (Hier der gesamte Bericht.)

Aber die Reise ist noch jung. Weiter geht’s.

19. Juli: sechs Sterne

Heute erwarten mich zwei weitere Restaurants mit jeweils drei Michelin-Sternen und mit umfangreichen Degustationsmenüs. Eigentlich wollte ich solche Eskapaden vermeiden, aber es ließ sich – Monate vorher – nicht anders regeln. Man nimmt, was man kriegen kann. Glücklicherweise ist der zeitliche Abstand zwischen den Reservierungen (nicht aber zwischen letztem und ersten Happen) groß.

Im L’Effervescence kocht Namae Shinobu eine französische Küche, die seit zwei Jahren mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet ist. In meinen Beiträgen auf Instagram, mit denen ich den kulinarischen Teil dieser Reise ausführlich dokumentiere, kam bereits (wie immer in diesen Fällen) die Frage auf, warum man in Japan französisch Essen gehen sollte. Dafür gibt es viele Gründe, einer davon ist ein Erlebnis wie das über die Mittagsstunden dieses Mittwochs. Das Menü ist ein Höhepunkt in Sachen Präzision, Würdigung von Produkten, Gastfreundschaft und Genuss – mit japanischer Handschrift. (Hier alle Details.)


Ich hänge abends ein bisschen durch. Kopfschmerzen, mir ist heiß, vielleicht habe ich irgendwas. Vielleicht ist es auch einfach die Hitze.

Tatsächlich habe ich gar nichts. Während derartiger Reisen mit kulinarisch so dichter Agenda geht es mir manchmal so. Vielleicht ist das ja der Preis der Maßlosigkeit. Dabei versuche ich doch schon, Maß walten zu lassen. Es gibt in Tokio über 135 000 Restaurants. Ich besuche nicht mal ein Dutzend davon. Nicht mal 0,1 Promille. Das ist doch maßvoll.

Wenn ich mich so fühle, hilft überraschenderweise oft genau das, wonach mir gerade ausnahmsweise nicht ist: gutes Essen und guter Wein. Aber genau so ist es. Im Restaurant Kohaku bestelle ich als erstes einen Vosne-Romanée 1er Cru von der Domaine Michel Gros, und jegliche Malaise ist verflogen.

Das Essen, ein mehrgängiges japanisches Menü mit saisonalen Zutaten, ist gut, aber deutlich entfernt von den drei Michelin-Sternen, die hier leuchten. Bei einer Art Frühlingsrolle wird mir auch etwas mulmig zumute. Das Fleisch, geschmacklich unauffällig, stammt von der Chinesischen Weichschildkröte, ein laut meiner flüchtigen Vor-Ort-Recherche bedrohtes Reptil, das hier als Delikatesse gilt. (Hier alle Details des Essens.)

Ich höre bereits die Aufrufe nach einem »Boykott«, aber den Gast möchte ich sehen, der bei seinem bereits im Voraus bezahlten Menü von über vierhundert Euro und einer sehr gastfreundlichen und respektvollen Atmosphäre empört mit der Faust auf den Tisch schlägt und aus dem Restaurant stürmt. Die einzig sinnvolle Konsequenz, die ich daraus ableite, ist, künftig neben Haifischflosse auch noch Schildkröte als Einschränkung zu kommunizieren. Ich hole das noch am selben Abend für alle Folgereservierungen nach, soweit möglich.

20. Juli: kein Reptil und keine Fotos

Am Mittag kehre ich ins Four Seasons at Marunouchi ein, nicht weit von meinem Hotel entfernt. Dort, im Restaurant Sézanne, lässt seit geraumer Zeit der britische Koch Daniel Calvert von sich und seiner französischen Hochküche hören.

Es wird ein fulminantes Menü mit großer Klarheit, bemerkenswerter Reduktion aufs Wesentliche und phänomenalen Zutaten, viele davon von der Schlaraffenlandinsel Hokkaido. Eine zum Schluss servierte Mango mit Shortbread-Chantilly ist eines der besten Desserts, die ich je gegessen habe. Zum Glück konnte ich diese Reservierung vom Flugzeug aus noch retten. (Hier der Bericht.)


Um halb neun am Abend steht eine Reservierung im zweifach besternten Ginza Sushi Kanesaka in meinem Kalender. Das sündhaft teure Restaurant im Untergeschoss eines Geschäftshauses im Nobelstadtteil Ginza bietet ein klassisches Sushi-Mahl am Tresen, mit exzellenten Zutaten, gewissenhaftem Handwerk und einer mitunter sehr kurzweiligen Interaktion mit Küchenchef Shinji Kanesaka. Ich versuche immer, ein wenig mit den Köchen zu kommunizieren, und wenn man mal eine Zutat auf Japanisch benennen kann, ist die Freude immer groß und einem der Respekt sicher. Ich glaube auch, die alten Sushi-Meister sind wie Elefanten. Sollte ich in zehn Jahren noch einmal herkommen, wird er sich an alles erinnern.

Bei weiteren Touristen am Tresen verhält sich die Sache anders. Plötzliche Abneigungen werden erst vor Ort kundgetan, Nigiri-Sushi wird auf dem Teller gehortet (anstatt es unverzüglich zu verspeisen) und andere Unsitten. Das passt zu einem Auftritt in Gold und Gucci. Tatsächlich sind genau solche Umstände der Grund, warum man als Tourist in den gehobenen Restaurants kaum noch Tische bekommt. Es ärgert mich ein wenig, genau so etwas gerade mitzubekommen.

Dies war vorerst mein letzter Abend in Tokio. Morgen geht es weiter nach Osaka, dann nach Kyoto, wo ich mich auf ein Wiedersehen mit dem ruhig am Kamo-Fluss gelegenen Hotel Ritz-Carlton schon besonders freue. Dass es danach noch einmal 24 Stunden nach Tokio geht, macht den Abschied heute Abend etwas leichter.

21. Juli: Bei Ankunft drei Sterne (zum Zweiten)

Zu erleben, wie man in Japan mit der Bahn fährt, ist immer wieder ein Erlebnis. Der Shinkansen, der mich heute in zwei Stunden und fünfundzwanzig Minuten nach Osaka bringt, fährt auf die Sekunde genau vom Tokioter Hauptbahnhof ab, nachdem vorher noch kurz eine Putzkolonne drin war. Wenig später rauscht der Zug fast geräuschlos mit 290 km/h durch die Landschaft. Die Passagiere sind leise, und wenn jemand isst, dann eine Bento-Box und kein Mettbrötchen.

Meine Pläne für Osaka wurden ein bisschen durcheinandergewirbelt. Dass das Drei-Sterne-Restaurant Hajime, das ich ebenfalls besuchen wollte, ausgerechnet zurzeit wegen umfangreicher Renovierungsarbeiten geschlossen hat, entschied sich zwar noch vor meinem Reiseantritt, aber drei Tage und Nächte vor Ort standen da schon fest.

Heute sagt mir auch noch das stattdessen geplante Rindfleisch-Restaurant Kitashinchi Fukutatei ab: der Küchenchef wäre akut ins Krankenhaus gekommen, heißt es in der E-Mail. Ich wünsche ihm natürlich rasche Genesung. Dennoch brauche ich nachher noch Alternativpläne.

Nachher, das bedeutet nach meinem Mahl im dreifach besternten und berühmten Kaiseki-Restaurant Kashiwaya Osaka Senriyama. Hier anzukommen versetzt mich unmittelbar in meine Reise von vor sechs Jahren zurück, wo ich viele Kaiseki-Restaurants in Kyoto und Osaka besucht habe.

Nun sitze ich wieder in so einem stillen Raum, den man auch für einen karg eingerichteten Sportraum halten könnte. Aber in diesen Zimmern, in denen man niedrig auf Bambusmatten auf dem Boden sitzt (zum Glück oft, wie hier, im Boden eingelassen und daher in normaler Sitzposition) und das Personal sich immer auf den Knien verbeugt, bevor es den Raum betritt, genießt man die exklusivste, komplexeste und kostspieligste Küche der Welt – ganz im Stillen und nur unter sich. Andere Gäste habe ich in Kaiseki-Restaurants noch nie zu Gesicht bekommen. Wer hier sehen und gesehen werden will, könnte falscher nicht sein.

Das heutige Mahl ist grandios. Die vielen Dutzend Zutaten in mehreren Akten repräsentieren den Sommer von Japans Flora und Fauna in erstaunlicher Vielfalt, berührender Ästhetik und mit makellosem Handwerk. (Hier der Bericht.)


In weiser Voraussicht (und mit entsprechender Erfahrung) habe ich für den Rest des Ankunftstags in Osaka keine weitere große kulinarische Eskapade geplant. Im vierzigsten Stock des Conrad Hotels – das eher verspielt-glamourös auftritt als stilvoll-schlicht – trete ich am späteren Abend meine Reservierung im Hotel-Restaurant C:GRILL an.

Japanisches Steak vom Grill, dazu ein Cabernet Sauvignon aus dem Napa Valley und eine spektakuläre Aussicht auf das Lichtermeer von Osaka sind heute ein entspannter, aber kulinarisch unauffälliger Ausklang.

22. Juli: Streetfood und Last-Minute-Hühnchen

Bei etwas Sightseeing im quirligen Viertel Dotonbori steuere ich gezielt den Streetfood-Laden Takoyaki Juhachiban an. Hier gibt es die in Osaka allgegenwärtige Speise Takoyaki, frittierte und mit Tintenfisch gefüllte Teigbällchen.

Die Portion mit acht sehr heißen Bällchen, getoppt mit Mayonnaise und einigen Streifen Noriblatt, lässt sich bei 36 Grad im Schatten nur im Eingangsbereich eines Drogeriemarkts verköstigen, aus dem hin und wieder ein Hauch kühler Luft herausweht. Haken dran.


Für den Abend ergab sich über den Reservierungsdienst TableAll, über den ich einige Reservierungen hier in Japan getätigt habe und der registrierten Nutzern hin und wieder spontane Reservierungsmöglichkeiten per E-Mail zusendet, die Gelegenheit für ein Yakitori-Restaurant. Yakitori sind Hühnchenspieße vom Grill, und wo, wenn nicht in Japan, gäbe es jemanden, für den das Perfektionieren gegrillter Hühnerteile am Spieß zur Lebensaufgabe geworden ist?

Einer davon ist Takeda Ichimatsu, für ­dessen Lokal Yakitori Ichimatsu er sogar einen Michelin-Stern erhalten hat. Es gibt unter anderem Schinken von einer gereiften Hühnerkeule, die in eine Halterung eingespannt ist wie die Keulen spanischer Eichelschweine, verschiedene Teile des Huhns vom Grill, auch Wachteleier und etwas von der Ente. Das Erlebnis ist kurzweilig und gut, aber zum Schluss steht – trotz Klimaanlage und Dunstabzug – so viel Rauch im Laden, dass man kaum mehr atmen kann. Reicht dann auch. (Hier der Bericht.)

23. Juli: Schlangen und Sushi

Meine zweite Streetfood-Eskapade in Osaka ist einem Teller Udon gewidmet. Zwei Läden in der Nähe des Hotels sind sogar im Guide Michelin empfohlen. Der eine befindet sich in einem sehr depressiven Untergeschoss eines in die Jahre gekommenen Einkaufszentrums. Die Schlange vor dem Laden ist sehr lang und der Laden stickig und klein, sodass ich kurzerhand wieder umkehre. Mit einem Taxi, das lange auf sich warten lässt, geht es zu Option Nummer zwei, die ich jetzt aber auch durchziehen werde, komme, was wolle.

Es kommt, wie es kommen musste, auch vor diesem Laden steht eine Schlange. Sie ist zwar nicht so lang, aber dafür draußen in der Sonne – bei bestimmt fünfzig Grad. Irgendwann geht es aber hinein, und der schmackhafte, noch viel heißere Teller mit Udon-Nudeln, die hier selbst hergestellt werden, mit Rindfleisch und Ei, bringt mich gut über den Rest des Tages. Es wurde auch Zeit; ich frühstücke auf dieser Reise nicht und hatte gegen 14 Uhr dann auch entsprechenden Appetit.


Abends geht es ins Sushi Yuuden, ein mit Michelin-Stern ausgezeichnetes, unprätentiöses Nachbarschafts-Sushi-Restaurant.

Die Vorspeisen sind gut, Zutaten und Handwerk aber erkennbar unterhalb des Niveaus meiner bisherigen Erlebnisse in Tokio. Auch die Nigiri erfüllen zwar jeden Anspruch an gutes, authentisches Sushi, lassen aber nicht nur beim etwas trockenen Reis zu wünschen übrig. Angenehm und freundlich war es trotzdem.

24. Juli: Bei Ankunft drei Sterne (zum Dritten)

Ich bin ein bisschen froh, aus Osaka abzureisen. Verliebt habe ich mich bisher auch auf den zweiten Blick nicht in diese Stadt, die kein Vergleich zum kosmopolitischen, quirligen Tokio oder dem pittoresken Kyoto ist. Genau dort geht es jetzt noch mal für einige Tage hin.

Meine große Vorfreude gilt unter anderem dem dortigen Hotel Ritz-Carlton, das mich bei meinem ersten Besuch vor sechs Jahren tief beeindruckt hatte. Die diskrete, flache Bauweise am Flussbett des Kamo, das edle Interieur mit viel Holz, Suiten mit eigenem kleinen Zen-Garten: Die Aura ist einzigartig und verkörpert eher den Stil eines privat geführten Relais & Châteaux-Hauses als den einer internationalen Hotelmarke.

Als ich nach einer Stunde Fahrt von Osaka hier ankomme, möchte ich erst einmal verweilen. In derart schönen Hotels habe ich für gewöhnlich als letztes den Drang, die Räumlichkeiten wieder zu verlassen. In der Lobby des Ritz-Carlton stillt ein Burger mit beispielhaftem Wagyu, buttrig-fluffigen Buns und guten Pommes Alumettes meinen inzwischen immer wieder zum Vorschein gelangenden Appetit auf westliche Kost.


Auf die Reservierung am frühen Abend im Mizai blicke ich den ganzen Tag schon mit besonderer Spannung. Eine Reservierung für das berühmte Drei-Sterne-Restaurant zählt zu den schwierigsten überhaupt. Auch die »Keine-Fotos-Regel« des Restaurants ist berüchtigt und meine Nervosität wegen all dieser Umstände etwas hoch.

Die Situation entspannt sich irgendwann, und die Sache mit den Fotos gelingt mir auch – nicht, weil ich mich der Regel widersetze, sondern weil mir einer der Hilfsköche zu verstehen gibt, Fotos vom Essen gingen in Ordnung. Weil niemand es macht, traue ich mich trotzdem nicht so recht, daher werden es eher Schnappschüsse.

Das Mahl über die nächsten Stunden ist üppig und hervorragend. Da man Kaiseki-Küche üblicherweise eher einsam und still genießt, wie neulich in Osaka, ist das Erlebnis hier am Tresen durchaus kurzweilig. Die aufwändigen Arrangements, die Küchenchef Hitoshi Ishihara aus herausragenden Produkten kreiert und auf kostbarem antikem Geschirr anrichtet, sind wahrhaftige Meisterwerke. Das Restaurant spuckt mich irgendwann wieder hinaus in den Maruyama-Park, Zikaden so groß wie Spatzen kreischen ohrenbetäubend in die Nacht. (Hier der gesamte Bericht.)

25. Juli: Gion mal zwei

In den alten, schönen Gassen in und um Kyotos Gion-Viertel führt es mich heute gleich zwei Mal. Am frühen Mittag fahre ich mit dem Taxi zum recht neuen Hotel Seiryu Kyoto, ein beeindruckendes Designhotel und vielleicht sogar eine Alternative fürs nächste Mal.

Bis hierhin streckt sich auch Alain Ducasse’ Gastro-Imperium, an dessen Konzepten ich immer interessiert bin. Mit dem Benoit Kyoto, das zu dem Hotel gehört, setzt der Über-Gastronom sein Bistro-Konzept aus Paris auch hier in Kyoto um. Die Atmosphäre und der ganze Ort sind bezaubernd, das Essen weniger. Dennoch geht mein Plan auf, den Gaumen ab und zu mal auf andere Gedanken zu bringen. Das Beste am Essen sind Brot und Butter. (Hier der Bericht.)


Abends habe ich eine Reservierung im mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichneten Gion Maruyama. Die Reservierung war eine Alternative zum Drei-Sterne-Restaurant Gion Sasaki, das leider derzeit renoviert.

Das schlichte und, wie so oft, von außen fast übersehbare Restaurant bietet ein Kaiseki-Menü am Tresen, das heute Abend überwiegend von einem jungen, aber sehr routinierten Koch umgesetzt wird. Es gibt naturgemäß viele mir schon von dieser Reise bekannten Zutaten. Die Vergleiche, die damit von Mahl zu Mahl möglich sind, finde ich allerdings seit jeher eher spannend als repetitiv. Unter anderem gibt es auch wieder den stintartigen Ayu, der hier vor meinen Augen aus dem Becken gefangen, per Ikejime-Methode getötet, auf ein Spieß gezogen und anschließend über Holzkohle gegrillt wird. Mein Bericht wird das später im Detail zeigen. Die insgesamt sehr freundliche Atmosphäre kompensieret, dass sich die Gerichte ein wenig unterhalb des attestierten Niveaus befinden.

 26. Juli: Teigtaschen und alter Burgunder

Langsam, aber sicher reduziere ich den Takt meiner kulinarischen Agenda. Für die letzten drei Tage stehen zwar noch Reservierungen an, doch freue ich mich genauso auf meine Hotels als Rückzugsort. Bei weiterhin knapp unter vierzig Grad im Schatten ist hier gerade an wenig Anderes zu denken.

Ein gezielter Spaziergang am frühen Mittag führt mich aber noch einmal in ein kleines Lokal namens Motoi Gyoza, das auf die entsprechenden Teigtaschen spezialisiert ist. Die sind richtig gut, am Rand leicht knusprig, mit dünnem Teig und saftigen, köstlichen Füllungen. Ich bestelle gleich noch mal ein paar nach.


Am frühen Abend steht mit dem Maeda das siebte und letzte Drei-Sterne-Restaurant dieser Reise auf dem Plan. Auch diesem Restaurant eilt eine strikte »Keine-Fotos-Regel« voraus, daher erwarte ich eine eher förmliche Angelegenheit.

Es wird das genaue Gegenteil. Als Küchenchef und Inhaber Yujiro Maeda sowie andere Stammgäste am Tresen im Verlauf des Abends meine Begeisterung und Neugier erleben, endet der Abend irgendwann mit heiteren Gesprächen, altem Burgunder und Champagner für alle. Und das Essen selbst war auch ein Traum.

Perfekt zeitlich abgestimmt habe ich im Anschluss noch eine Reservierung in der Weinbar Cave de K. Umfangreich wird es jetzt zwar nicht mehr, aber die spontane Entdeckung gleich neben meinem Hotel macht so viel Laune, dass ich meine Pläne für morgen spontan umkrempele und hier gleich wieder reserviere. Meine etwas flexiblere Agenda gegen Ende der Reise sieht genau solche Dinge vor.

27. Juli: Mehr Teighandwerk

Meine gestern Abend kurzerhand verschobene Reservierung im Tempura Mizuki hole ich heute am frühen Mittag nach. Das deckt sich mit meinem Vorhaben, bei den Temperaturen meinen Aktionsradius weitestgehend auf Aktivitäten in und um das Hotel zu verkleinern.

Im Untergeschoss des Ritz-Carlton Kyoto befindet sich das Mizuki, das drei Restaurantkonzepte unter einem Dach vereint. Das besagte Tempura-Restaurant ist sogar mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet. Hier sitzen bis zu acht Personen in bequemen Sesseln an einem Marmortresen, dahinter findet dann in der kommenden Stunde feinstes Frittierhandwerk statt. Wie neulich schon im Sushi Shin beeinträchtigt die etwas weniger authentisch wirkende Hotelatmosphäre in keiner Weise das tatsächliche Handwerk. Authentisch ist hier ohnehin alles: der erfahrene Koch, sein Handwerk und die erlesenen Zutaten aus Hokkaido und Kyoto. Es ist das beste Tempura, das ich bisher probiert habe. (Hier der Bericht.)


Noch mehr freue ich mich aber auf die zweite Reservierung in der Weinbar Cave de K. Eine solche Gastronomie wünscht sich jeder Essens- und Weinbegeisterte wohl in seiner Nachbarschaft: ungezwungene Plätze am Tresen, kein Hipstertum, sondern Service der alten Schule, eine Weinkarte mit dem Fokus auf Frankreich, davon das meiste aus dem Burgund, und dazu kleine Speisen von beeindruckender Qualität. Die Pastagerichte sind genauso ein Traum wie eine große Käseauswahl aus Europa und frisch geschnittener spanischer Schinken. Müsste ich mich hier auf der Stelle entscheiden, was ich für den Rest meines Lebens am liebsten äße, wäre es eine solche Küche. Eine ironische (und nicht ganz ernstgemeinte) Feststellung am baldigen Ende einer kulinarisch bemerkenswerten Reise.

28. Juli: Tokio-Hotel

Dass ich heute schon für meinen morgigen Rückflug einchecken kann, stimmt mich melancholisch. Ich versuche mich daher in der japanischen Tugend, Melancholie und die Vergänglichkeit schöner Dinge nicht nur als festen Bestandteil eines erfüllten Lebens zu akzeptieren, sondern als Voraussetzung für Glück überhaupt.

Aber erst mal gehe ich Pizza essen.

Mit dem Shinkansen geht es am Morgen zurück nach Tokio. Für meine letzte Nacht in Japan checke ich im Mandarin Oriental ein. Meine Zimmerreservierung in dem Hotel sicherte mir Monate zuvor bereits einen Platz im äußerst populären The Pizza Bar on 38th, einem der derzeit gefeiertesten Pizzaläden überhaupt.

Ich probiere eine Pizza Marinara und eine Diavola, beide sind herausragend und in einem anderen Stil umgesetzt als die »wilden« Konkurrenten im Pizza Studio Tamaki. Der Teig ist etwas »stabiler«, mit weniger Lufteinschlüssen in der Kruste, dennoch fein knusprig und so köstlich, dass man sich am liebsten zwei, drei ganze Exemplare einverleiben möchte.


Ich bleibe auch für meinen letzten Abend in Japan im Hotel. Im kantonesischen Restaurant Sense habe ich zwar auch reserviert, um noch einmal eine kulinarische Abwechslung zu haben. Aber vor allen Dingen gibt es hier noch ein letztes Mal eine Sache, die man nur im 37. Stock eines Hochhauses in Tokio bekommt. Den Ausblick auf die Lichter dieser Stadt.