Harry’s Piccolo – Pasta, basta!
So etwas liebe ich ja, wenn man auf der Suche nach einem guten Hotel auch noch feststellt, dass sich ein besterntes Restaurant im Haus befindet. Das ist zum Beispiel bei meinem kleinen Abstecher nach Triest der Fall.
Im Grand Hotel Duchi d’Aosta, in perfekter Lage an der imposanten Piazza dell’Unità d'Italia, befindet sich mit dem Harry’s Piccolo ein inzwischen zweifach besterntes Restaurant. Im Hotel gibt es auch Harry’s Bistro und Harry’s Bar, allesamt verwandt mit der berühmten Harry’s Bar in Venedig im Schoß des Gastgewerbe-Unternehmens Cipriani.
Ich habe von dem Lokal noch nie etwas gehört und lasse mich gerne überraschen. Dass hier italienisch gekocht wird, habe ich bereits der Speisekarte entnommen, die sich fabelhaft liest und, wie die Weinkarte, komplett online einsehbar ist.
Wir haben also: ein Hotel mit Relais & Châteaux-Mitgliedschaft, ein Restaurant mit zwei Michelin-Sternen, eine Speisekarte mit vorzüglich klingenden Gerichten in Form von Menüs oder à la carte, eine 70-seitige Weinkarte und eine entspannte Location im Erdgeschoss des Hotels mit Blick auf den prachtvollen Platz. Sehr viel schiefgehen kann da eigentlich nicht.
Wobei sich das mit der entspannten Location schnell relativiert. Die von unten beleuchteten Tische mit bodentiefem weißem Tischtuch sind zwar sehr atmosphärisch, aber im Restaurant herrscht eine sparsame Temperatur, dazu hallt es (wegen des Parkettfußbodens und der fast leeren Wände) wie in einem Zimmer, das man zum Auszug gerade leergeräumt hat, und neben meinem Tisch werden in den zwei kleinen Speisesälen nur noch vier weitere Gäste sitzen – an einem Samstag. Das wirkt alles etwas trist.
Ein Aperitif wird’s richten. Das Restaurant ist eine »Krug Ambassade«, weswegen sich eine kleine Aperitifkarte hauptsächlich kostspieligen Cocktails mit besagtem Champagner widmet. Ich bestelle lieber noch ein Glas 2014er Domaine de l’Horizon blanc (25 €), den ich schon am Mittag auf der Terrasse probiert habe. Leider ist der Wein hier im Restaurant jetzt zu warm und kann auch nicht durch einen neuen ersetzt werden, weswegen der Sommelier als willkommenen Ersatz einen 2020er Chassagne-Montrachet von Joseph Drouhin anbietet. Der »gehe aufs Haus«, später steht aber dennoch der (nicht getrunkene) l’Horizon blanc auf Rechnung – etwas merkwürdig, aber ich merke nichts an, da ich ja nun mal Wein konsumiert habe.
Zum – besser temperierten – Burgunder kann ich mich auch entspannt der Speisekarte widmen. Eigentlich war mir schon lange im Voraus nach einer Auswahl à la carte, aber es klingen zu viele Gerichte zu gut, um sich auf nur wenige zu beschränken. Meine Wahl fällt daher auf das Menü »L’incontro« (»Die Begegnung«) für 220 € mit einer kleinen Anpassung, man ist hier flexibel.
Zum Aperitif serviert man ein Quintett an Snacks. Eine kugelförmige Kreation mit Aubergine, Parmesan, Tomate und Basilikum spielt gekonnt, aber etwas tomatenlastig, mit der Assoziation an eine Parmigiana (7/10); ein mit Blaukrabbe gefüllter Mais-Cannellono mit Fingerlimette und Alge ist angenehm knusprig und mit appetitanregender Säure ausgestattet; auch das feine Meerestier kommt gut zur Geltung (7,5/10).
Eine »Heu-Panna-cotta« mit einer Sauce aus Apfel und Sellerie, dazu Gurke und geräucherte Forelle, schmeckt gekonnt würzig-getreidig (7/10); eine warme, gedämpfte Teigtasche (Bao) ist mit gut abgeschmecktem pulled pork und Rotkohl gefüllt und sehr wohlschmeckend (7,5/10). Zum Schluss überrascht eine Crême brûlée mit würziger ’Nduja und Umeboshi durch eine ungewohnte Kombination von Schärfe und Süße – interessant und sehr schmackhaft (7,5/10), wenngleich ich noch nicht ganz in der Laune für Süßes bin.
Dass es hier derart verspielt zugeht, überrascht mich, aber die Richtung stimmt. Man stimmt sogar noch weiter ein.
Eine Geflügel-Consommé zieht alle Register klassischen Kochhandwerks. Das klare, intensive und konzentrierte Elixier schmeckt dabei mehr als nur nach Hühnerbrühe: Einige Tropfen Kamilleöl spielen mit einer feinen Süße, und ein unscheinbares Estragonblatt ist überraschend pikant und ätherisch. Hervorragend. (8/10)
Eine kleine Portion tiefschwarzer Tintenfisch-Tagliatelle versteckt sich beim nächsten Happen unter einer würzig abgeschmeckten Mayonnaise mit Mandeln, äußerst fein. (7,9/10)
Einen Rotwein habe ich auch schon ausgewählt. Meine Wahl aus der umfangreichen, auf Italien fokussierten Karte fällt auf einen 2019er Ornellaia, der mit 290 € natürlich ein teurer Wein ist, aber hier fast zum aktuellen Verbraucherpreis verkauft wird – sehr fair.
Offiziell beginnt das Menü mit einer Zutat, die ich überlesen und sonst eigentlich nicht aktiv bestellt hätte: Fohlen. Dass es auch noch als Tatar zubereitet ist, macht es nicht besser, aber die Überwindung zahlt sich in diesem Fall aus. Das Fleisch hat einen buttrigen Schmelz, der an Wagyu-Rind erinnert. Es ist in einer verführerischen Kombination mit geräuchertem Aal (für eine feine Süße und Raucharomen), Kaviar (für Salzigkeit) sowie schwarzem Knoblauch, Yuzu und Koriander angerichtet. Zwei luftig dünne Reis-Cracker bringen etwas Knusprigkeit ins Spiel. Dass man die Regler für Umami, Fett und Salzgehalt etwas am Anschlag hat, kann man ruhig feststellen, aber, mamma mia, ist das gut! (7,9/10)
Der zweite Gang wirkt einladend reduziert. Es gibt ein kleines, warmes Toast mit einer Füllung mit Kaisergranat und Perlhuhn, was leider deutlich weniger süffig-herzhaft schmeckt als erhofft. Eigentlich nimmt man aromatisch nur das buttrig ausgebackene Brot wahr. Eine »Wasabi-Mayonnaise« (ohne herauszuschmeckenden Wasabi) macht daraus zwar ein kurzweiliges, aber kein nachhaltiges Vergnügen. Das ist zu fettig und zu undifferenziert, und was man mit den trockenen Salatblättern anfangen soll, bleibt ein Rätsel. (6,5/10)
Schwamm drüber, denn das nächste Gericht (aus dem anderen Menü) kennzeichnet das Mahl nun eindeutig als Achterbahnfahrt – hier auf ihrem höchsten Berg. Es gibt eine kleine, aber genau richtige Portion Tagliatelle mit Muscheln, Safran, Seeigel und Fenchel. Die Pasta stammt vom renommierten Hersteller Benedetto Cavalieri und zeigt eindrücklich, dass »fertige« Pasta jedes Recht dazu hat, in einem Spitzenrestaurant eingesetzt zu werden, wenn sie qualitativ so überragend ist. Frische Pasta hätte in diesem Fall nichts zu suchen, da hier eine besonders dichte Konsistenz der Pasta erwünscht ist, die noch nicht einmal al dente gekocht ist, sondern noch eine Nuance mehr Biss abverlangt. Der Teller duftet intensiv nach Jod, fast schon medizinisch, und die Nudeln machen ein schmatzendes Geräusch, wenn man sie auf die Gabel dreht. Unter dem Nudelnest tut sich dann noch mehr Sauce auf, die eine Fortführung des jodig-maritimen Geschmacksbilds, das von wildem Fenchel etwas aufgelockert wird, bis zum Schluss ermöglich. Es ist eines der besten Pasta-Gerichte, die ich je gegessen habe, und steht mit meiner Referenz-Seeigel-Pasta aus dem Masseria in Washington, D.C. auf einer Stufe (auch, wenn Italiener das wohl nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen werden). (10/10)
Das folgende Pasta-Gericht hat Tortelli zum Thema. Die kleinen Teigtaschen – nun natürlich hausgemacht – sind mit einer herzhaften Hühnerfarce gefüllt und werden jeweils von einer ausgelösten, sehr kleinen Auster begleitet, die sich an sie schmiegt. Auch hier ist die Komposition eine Ode an das Meer, aber weniger jodig, sondern frischer, saliner. Die feine, herbe Säure einer behutsam dosierten Sauce mit Brunnenkresse untermalt dieses Thema. Die Pasta ist erneut angenehm bissfest, wunderschön glänzend, und auch hier bietet Fenchel etwas süßlich-kräuterige Abwechslung. (Dass sich die Themen der Gerichte ein bisschen überschneiden, bekäme man mit der Auswahl eines einzelnen Menüs normalerweise nicht mit.) Auch dieses Gericht ist eine Referenz. (10/10)
Ein Risotto leitet jetzt ein wenig den Weg nach unten ein, aber das könnte falsch verstanden werden – wir kommen von ganz oben! Der Carnaroli-Reis wurde in einer Steinpilzbrühe bissfest gekocht und in eine cremige »Parmsesan-Milch« eingeschwenkt. Dass das nicht zu schwer wirkt, liegt an einem gekonnten Abschmecken mit etwas Zitrone. Das exzellente Risotto wird mit hervorragenden, goldbraun angebratenen »Champagnerkorken«-Steinpilzen und weißem Trüffel aus Istrien serviert – eine himmlische Kombination, wenngleich die Trüffeln mit der Referenz aus Alba nicht ganz (aber durchaus ein gutes Stück) mithalten können. Immerhin ist es dieselbe Art (tuber magnatum pico). Das ist mehr als hervorragend. (8,5/10)
Fast ungebremst rast man dann ins Tal. Ein Gericht mit Wachtel, Foie Gras, Radicchio und Grapefruit ist schlicht nicht essbar: Die Wachtel ist nur kurz angebraten, ansonsten völlig roh. Nicht rosé, nicht blutig, roh. Ich stochere ein wenig herum, probiere einige Komponenten zusammen, auch ein kleines Stück des Vogels, aber das passt vorne und hinten nicht. Auch die Bitterkeit von Radicchio und Grapefruit wirken hier eher erschlagend, und ein obenauf großzügig gestreutes Lakritzpulver ist wirr (kein Vergleich zum behutsamen, aber sehr schlüssigen Einsatz von Lakritzpulver im Safran-Risotto von Le Calandre). Den Teller muss ich leider stehenlassen. (5/10)
(Wer sich mich in einem solchen Fall als peniblen Nörgler vorstellt, muss ich übrigens enttäuschen. Ich bin in solchen Situationen nie fordernd oder frustriert, bleibe stets höflich und verzichte so gut wie immer auf einen Austausch. Das fällt besonders leicht, wenn das Menü so hervorragend – und auch üppig – ist wie bisher.)
Der letzte herzhafte Gang listet Zutaten auf, die mehr als versöhnlich klingen, u. a. knusprigen Schweinebauch, Kalbsbries, Morchelragout und schwarzen Trüffel. Das Potpourri an potenziell köstlichsten Zutaten versteckt sich dann aber unter einer ziemlich massigen Lorbeer-Mayonnaise und mindestens ebenso viel Portwein-Reduktion. Knusprig, wie ausgewiesen, ist der Schweinebauch leider nicht, seine Konsistenz ist unerwartet komprimiert und bissfest. Das Kalbsbries suche ich auf dem Teller ohne Erfolg. Das Ganze wird ziemlich schnell zu einer sehr »saucigen« Angelegenheit, die zu einem undifferenzierten – aber durchaus schmackhaften – Allerlei verschwimmt. Mit einer differenzierteren Anrichtweise, besserer Garung und bedachteren Proportionen hätte man aus genau denselben Ingredienzen etwas Hervorragendes machen können. (6,9/10)
Aber der nächste Berg ist schon wieder im Visier. Eine Erfrischung um Kiwi als eine Art Kuchen, mit Fingerlimette und Ingwer, ist herb, kühl und säurebetont, sehr gut. (7/10)
Noch viel besser ist das offizielle Dessert mit Mandeleis sowie Kapern, Oregano und Zitrone in unterschiedlichen, meist creme- und gelartigen Zubereitungen. Die verspielt angerichtete Kreation ist überraschend gut, weil sie geschmacklich charmant mit Italo-Nostalgie spielt. Die Zitrone schmeckt nach Limoncello, das Mandeleis nach Amaretto, man hat sofort den Tisch eines Cafés an einem Dorfplatz im Sinn. Auch handwerklich ist das sehr gelungen; das Eis ist angenehm temperiert, ein paar knusprige Elemente bringen Abwechslung, die Gels Frische. Das ist hervorragend, vor allem wegen des »Ortsbewusstseins«. (8/10)
Mit den Pralinen zum Schluss ist man dann schon wieder sehr weit oben angekommen, von einer köstlichen Tarte Tatin im Miniaturformat bis zur Schokoladenpraline in vorzüglicher Qualität ist das der Stoff, aus dem traumhafte Süßspeisen gemacht sind. (8,9/10)
Und von hier oben kann man mich jetzt bitte abholen, ich möchte auf keinen Fall wieder runter.