Noor – vom Kontext abhängig
Man wird Mühe haben, etwas über das Restaurant Noor zu recherchieren, das sich nicht ausführlich mit dem außergewöhnlichen Konzept des Restaurants befasst. Zu Recht, denn Küchenchef Paco Morales widmet seine Küche einer weit zurückliegenden Epoche, in der ein großer Teil der iberischen Halbinsel noch al-Andalus hieß und arabisch war.
Wenn man so will, ist das natürlich schon »eine Reise wert«, wie es der Guide Michelin seit neuestem mit der Vergabe eines dritten Sterns für das Restaurant attestiert. Aber, wie wir alle wissen, zählt nur, was auf dem Teller ist.
Im Rahmen eines ambitionierten Ausflugs von knapp 36 Stunden, reise ich daher nach Córdoba. Ich möchte herausfinden, ob man das Restaurant auch einfach nur als kulinarisch passionierter Gast besuchen kann, ohne sich in die Vita des Küchenchefs und die einschlägigen Geschichtsbücher einzulesen. Immerhin reden wir über ein Restaurant und nicht über eine Ausgrabungsstätte.
Das Noor befindet sich an einer unscheinbaren Straßenecke in Córdoba. Orangenbäume säumen hier die Straßen; es ist Anfang Februar und schon angenehm mild. Ein wenig muss ich mir noch die Beine vertreten, bevor das Restaurant um Punkt halb neun öffnet. Die auffällig gestaltete Fassade ist fensterlos und signalisiert damit, dass man eine andere Welt betritt.
Nach dem Einlass ist das erste Ritual ein kurzes Händewaschen mit Orangenblütenwasser. Ich bin trotzdem froh, immer auch eine Fläschchen Sterillium dabei zu haben. Das passt auch besser zum Interieur, denn trotz der modernen orientalischen Designakzente wirkt alles recht klinisch. Das liegt vor allem an der kalten Farbtemperatur und vielen weißen, nach Kunststoff anmutenden Oberflächen. Und noch etwas wirkt befremdlich: Das gesamte Personal steht zunächst wie versteinert in der Küche und starrt einen an. Eine nette Atmosphäre ist etwas anderes.
Kein Grund, nicht trotz allem schon mal in der Weinkarte zu stöbern. Eher untypisch für Spanien, hielt das Restaurant diese im Vorwege selbst auf Nachfrage unter Verschluss. Mein Wunsch, als Aperitif zunächst mit einem offenen Weißwein aus der Region zu starten, wird mit einem Haus-Sherry (9 €) beantwortet. Das war nicht ganz meine Idee, aber der Sherry ist perfekt temperiert, schlank und appetitanregend. Für den Rest des Abends gehe ich dann mit einem 2013er Vega Sicilia »Unico« (465 €) in die Vollen.
Das Menü musste ich bereits einige Wochen im Voraus auswählen. Von den drei Varianten fiel meine Wahl auf die mittlere Option (»Morisco«, 170 €). Das umfangreichere Menü für 270 € erschien mir wegen der dort fast zwanzig aufgeführten Gerichte abschreckend überfrachtet.
Ein Kellner kommt an den Tisch und präsentiert eine Schautafel mit einigen Meilensteinen des Restaurants. Kurioserweise werden dort zwar der erste und zweite Michelin-Stern aufgeführt, nicht aber der dritte. Dazu werden einige Zutaten im Rohzustand gezeigt: Zimtstangen, Pistazien, Muskatnüsse, Anis und Safran – nichts allzu Aufregendes.
Das Menü selbst steht unter dem Motto »Andalusische Überfahrt / Ende des goldenen Zeitalters Spaniens, XVII. Jh.«.
Es beginnt mit drei Speisen, die teilweise auf mit einem 3D-Drucker hergestellten Kunststoffformen angerichtet sind. Speise Nummer eins ist ein geschmacklich eher neutrales Rehtatar, das mit saftiger Zucchini, Rettich und sehr dominanter Rose kombiniert ist (6,9/10). Ein frittiertes Käsebällchen mit Safran und Bonito ist ziemlich kaubedürftig und schmeckt fast nur nach Frittierfett (6,9/10).
Ein zweiteiliger Snack in der Mitte besteht einerseits aus einem schwarzen »Brot«, das mit mehreren, legoförmigen Zubereitungen um Mole und Sardellen dekoriert ist. Das ist aromatisch stimmig, aber sehr teiglastig (7/10); deutlich besser ist das kühle Gurkensüppchen darunter, das elegant mit Orange und Minze aromatisiert ist (7,5/10).
Es foglt Khan curd, eine Zubereitung aus Milch, Sahne, Kabeljau und Knoblauch. Die quarkähnliche, herzhafte Creme ist mit einem weichen, mit Kaviar getoppten Eigelb, Kapern, Habanero und Rosmarin-Öl kombiniert. Die lauwarme Speise ist würzig, fruchtig, herzhaft, leicht pikant und durch die milde Creme fein ausbalanciert. (7,9/10)
Der nächste Gang präsentiert eine »mazerierte« Auster in zwei Teilen, die mit einem Spinatgelee, eher eine Sauce, überzogen ist. Junge, süße Erbsen sowie eiskalte, unangenehm wachsartige Pralinen aus Schafsmilch begleiten das kühl servierte Arrangement. Eine markante Bitterkeit, die vermutlich vom Spinat herrührt, fällt geschmacklich als erstes auf, dazu dominiert von irgendwoher ein pikantes Knoblaucharoma. Die Auster geht in der Kreation völlig unter und trägt nur zu etwas »Biss« bei. Man kann das mit gutem Willen interessant finden, aber sicherlich nicht köstlich. Sehr gut im Sinne der verwendeten Zutaten und Techniken ist das Ganze dennoch. (7/10)
Der dritte Gang ist ein Karim von gerösteten Pinienkernen, was eine cremige, reichhaltige Zubereitungsart bezeichnet. Gerösteter grüner Apfel und die Gewürzmischung Ras el-Hanout gelangen bei dem Gericht auch zum Einsatz. Insgesamt erlebt man hier ein weihnachtliches Geschmacksbild und weitestgehend cremige Texturen. Man erläutert zu den Gerichten zwar immer ein wenig, aber das Englisch des Personals ist schwer verständlich. So sitzt man vor einem Gericht ohne Kontext, das zwar aufwändiges Handwerk erkennen lässt, aber mit bemerkenswertem Genuss oder denkwürdigen Produkten nach wie vor nichts zu tun hat. (7/10)
Insgeheim – vielleicht unberechtigt – hatte ich mir das orientalische Leitmotiv etwas schwelgerischer erhoff, heißer, mit erkennbaren Zutaten, aufregender. Aber mal sehen, was noch kommt.
Leider zieht die nun angebotene Brotauswahl das Niveau weiter nach unten. Eine Brioche feuilletée ist kalt und pappig, und auch die anderen Brotsorten sind völlig indiskutabel.
Der kommende Gang sieht spannender aus, allein schon, weil mehr Zutaten erkennbar sind. Es gibt rohe Garnelen, die mit Chicorée-Streifen, einer Art transparentem Schweinskopf-Schinken und Kaviar geschichtet wurden. Auch hier geht es zwar um eher »glitschige« Texturen – das kann einem schnell zu viel werden, vor allem bei maritimen Zutaten –, aber ich freue mich, auch mal ein Messer bemühen zu können. Die Garnelen sind angenehm nussig und süß, wozu der Schinken geschmacklich gut passt; die Bitterkeit des Chicorées ist spannungsvoll, und der Kaviar lässt etwas Salz nachklingen. Weitere Tiefe bekommt alles durch einen fünfzig Jahre alten, hervorragenden P.X.-Sherry-Essig. Es ist der erste wirklich hervorragende Gang. (8,5/10)
Es geht weiter mit graupenähnlicher Hartweizenpasta, die mit Hühnerfond und geräucherter Butter wie ein Risotto gekocht wurde. Auf dieser süffigen Basis gibt es kleine Tintenfischstücke und »letzten weißen Trüffel« aus der Region. Eigentlich klingt das nach unverkopftem Genuss. Doch ein penetrantes Räucheraroma, das man vermutlich mit irgendeiner Methode, die einen Schlauch und eine Glocke involviert, eingearbeitet hat, walzt sämtliche aromatischen Facetten des Gerichts einfach platt. Ein essbares Schild mit der Aufschrift »abbasiya« liegt auch noch auf dem Teller. Es schmeckt nach nichts. (6,9/10)
Beim nächsten Gang geht es viel um Eingelegtes, eine damals nur den Königen vorbehaltene Methode. In diesem Sinn gibt es Wolfsbarsch, Sardellen und (große Stücke) Bottarga. Sie sind in einer cremigen Sauce und mit etwas Gurke angerichtet. Ich kann mir gut vorstellen, dass dieses Gericht polarisiert, immerhin ist eine tranige, betont fischige Geschmackswelt hier das zentrale Thema. Mich erinnert das Gericht damit sehr an spezielle, kostbare Gänge in japanischen Kaiseki-Restaurants, und es steht dem auch in nichts nach. Immerhin kommen hier hervorragende Produkte zur Geltung. (8,5/10)
Es geht weiter mit einer lauwarmen Kombination von Beef Jerky, marinierter Paprika, geröstetem Buchweizen und Labaneh, einer Art arabischem Rahmjoghurt. Irgendwie schmeckt das ganz süffig, ein bisschen nach Fleisch mit Mayonnaise. Allzu viel kann ich aber auch diesem Teller nicht abgewinnen. (7/10)
Inzwischen quäle ich mich ein wenig durchs Menü. Die breiigen Konsistenzen, die lauwarme Temperatur und die vollkommene Abwesenheit von herausragenden Produkten zehren ein wenig an meiner Laune.
Eine weitere Creme ist auch die Basis des folgenden Gangs, in diesem Fall aus Kürbis. Darauf ist ein Stück gedämpfter Hecht platziert, weiteren Kürbis findet man obenauf. Das Ganze wurde mit Vanille gewürzt – für Hauptgerichte eine gewagte Angelegenheit. Da die cremige Speisen hier ohnehin schon alle dessertähnlich wirken, ist es seltsam, hier auch noch mal mit Vanille »nachzutreten«. Aber unterm Strich bleibt ein hervorragend gegarter Fisch auf samtigem Püree und einer Vanillenote, die trotz allem geheimnisvoll und »orientalisch warm« wirkt. Überraschend gut. (7,5/10)
Der letzte herzhafte Gang ist ein Gericht mit Rinderloin. Dazu gibt es eine appetitlich-säuerliche Tomatencreme mit Chili sowie geraspeltem Trüffel, was selten eine gute Idee ist. Bei dem Teller läuft aber noch mehr schief: er ist lauwarm, der Trüffel ist wenig aromatisch, das Fleisch ist zäh. Wenn man bedenkt, welch großartiges Fleisch in Spanien verfügbar ist, ist diese Vorstellung hier eine mittlere Katastrophe. Irgendein annehmbares Geschmacksbild bekommt der Teller zwar hin, mehr aber nicht. (6,5/10)
Meine Vorfreude auf die Desserts hält sich in Grenzen, aber es wird besser als befürchtet. Den Auftakt macht ein Sorbet aus sehr aromatischen Orangen aus der unmittelbaren Umgebung mit Olivenöl und angenehm knusprigen Mandeln. Ohne Umschweife hervorragend. (8/10)
Ein Carob genannter Kuchen mit Nuss und Kaffee ist in der Mitte mit einer Art Salzkaramell gefüllt. Die Konsistenz der verschiedenen Schichten ist etwas seltsam homogen, aber ansonsten ist das sehr gut und erinnert geschmacklich an Mokka. (7/10)
Einige Pralinen sind dann fast das Beste am Menü. Mit Aromen von Nuss, Rose, Safran, Lakritz und Pistazie greift man zum Schluss noch einmal eine orientalische Geschmackswelt auf, die ich mir eigentlich schon viel früher gewünscht hätte. (8,5/10)
Damit endet ein Menü, von dem ich mir deutlich mehr erhofft hatte. Dafür, dass die Küche ohne Kontext kaum zu verstehen ist, ist es zudem erstaunlich, wie wenig einem dazu im Restaurant vermittelt wird. Ich bin zwar kein Freund von langen Erläuterungen am Tisch, aber hier haben sie – abgesehen von ein paar kaum verständlichen Hinweisen am Tisch – gefehlt, und sei es in Form kleiner Tischkärtchen.
Aber auch mehr Kontext hätte nichts daran geändert, dass die Küche einen spanisch-avantgardistischen Touch hatte, von dem ich hoffte, dass er inzwischen der Vergangenheit angehört, mit vielen Cremes, kaum etwas zu beißen, wenig Hitze und keinerlei Produkt-Highlights. Legt man dann noch die klinische Atmosphäre und den apathischen Service in die Waagschale, bleibt ein fader Nachgeschmack. Aber vielleicht war das damals so, im siebzehnten Jahrhundert.