Atomix – koreanischer Kreativkeller
Das Restaurant Atomix spricht man, nicht gerade intuitiv, a-toe-mix aus, nicht a-tomics. Es hat auch mit Atomen nichts zu tun, sondern mit dem Koreanischen Wort für »Geschenk«. Atoboy, ein weiteres Restaurant des Ehepaars Ellia und Junghyun Park, ist dadurch ebenfalls identifizierbar.
Beide Restaurants gehören zu den derzeit gefragtesten Lokalen New Yorks und bedienen den schon seit vielen Jahren nicht abflauenden Appetit der Stadt nach koreanischem Essen. Das mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete Atomix folgt dabei leider auch dem Trend der so gut wie unmöglichen Reservierungen. Wie üblich half es nichts, auf die Sekunde genau bei Tock die Reservierungszeit abzupassen. In einem Sekundenbruchteil waren alle Optionen für den gesamten Monat März ausgebucht. Am Ende war es auch hier hilfreich, bereits zuvor per E-Mail mit dem Restaurant in Kontakt getreten zu sein. Man informierte mich recht zeitnah zu meinem missglückten Reservierungsversuch über eine Stornierung, was seltsam genug ist, weil die vorverkauften Reservierungen für insgesamt 433 $ (ca. 405 €) pro Person eigentlich nicht stornierbar sind.
Als ich an diesem Donnerstagabend vor der Tür des Restaurants stehe, liegen diese Beschwerlichkeiten glücklicherweise hinter mir. Ich muss nur noch in dem Flur eines Wohnhauses auf den Einlass warten. Ein Hinweisschild erklärt, dass die Tür, je nach Seating, pünktlich um 17:30 Uhr bzw. 20:45 Uhr geöffnet wird, jeweils etwas später für Gäste mit einer Reservierung an der Bar. Dort gibt es ein kompakteres Menü und einfachere Reservierungen.
Das durchgetaktete Einlassprozedere erscheint schlüssig, da man auf dem Weg zum Restaurant, das sich im Untergeschoss befindet, die Bar durchqueren muss. Es wäre zu unruhig, würden sich die Gäste hier in die Quere kommen.
Das minimalistische Interieur des Restaurants ist eine Mischung aus New Yorker und koreanischer Schlichtheit. Unten sitzt man an einem u-förmigen, breiten Tresen, von dem aus man in die offene Küche daneben blicken kann.
Der koreanische Anspruch an wertiges Design zeigt sich in vielen Details, bis hin zur Aufmachung und Typografie der Weinkarte. Wer für so etwas affin ist, erfreut sich an der inhaltlich und grafisch schlüssigen Gruppierung der Winzer, Weinarten und -regionen bis hin zu luftigen Zeilenabständen und einer klaren Schriftart. Ich werde hier mit einen 2013er Pinot Noir »Ritchie Vineyard« vom Weingut Aubert (517 $) aus dem Sonoma County fündig, das selbst in den USA schwer zu finden ist und von dem ich bisher nur die exzellenten Chardonnays kenne. Damit lege ich auch gleich los.
Ein erster Snack wird serviert. Es gibt Sardine, nur leicht geflämmt, auf einer Rolle Gim Bugak. Letzteres sieht auf den ersten Blick so aus wie eine japanische Sushi-Rolle, ist jedoch nicht komplett mit Reis gefüllt. Stattdessen wurden Seetang und mit Tagetes parfümierter Reis zusammengerollt und frittiert; die Rolle ist innen hohl. Das Ergebnis ist ein knuspriger Snack, viel leichter als vermutet, dabei kühl und klar, mit einem maritimen Kick. Es ist ein technisch und qualitativ bemerkenswerter Start. (9/10)
Die zweite Einstimmung ist ein Muschel-Bun. Da ich den kleinen Snack im Ganzen verspeise und das Innere nicht zu Gesicht bekomme, kann ich dennoch wahrnehmen, dass auch hier keine massige Füllung verwendet wurde. Stattdessen wird von irgendwoher die maritime Geschmackswelt wieder aufgenommen, unterstützt durch Myeongran Jeot, einer Art koreanischer Bottarga. Comté-Staub bringt zusätzliches Umami. Auch das ist ideenreich und herausragend gut. (9/10)
Der nächste Gang leitet offiziell erst das Menü ein. Zu jedem Gang wird nun jeweils eine aufwändig gestaltete Tischkarte serviert, die neben einer differenzierten Darstellung der Zutaten und des Hintergrunds des Gerichts auch noch jeweils eine Keramik- oder Glasmanufaktur in Korea »bewirbt«. Letzteres hat zu dem jeweils servierten Gericht etwas sonderbarerweise jedoch keinen Zusammenhang; es geht bei der Sache eher um ein gestalterisches Detail.
Wichtig ist, dass das ganze informative Beiwerk den Fluss des Essens nicht stört. Im Gegensatz zu ermüdenden Vorträgen, die einige Restaurants zu ihren Gerichten abliefern, sind die Dinge hier lediglich als optionale Referenzen zu betrachten, in die man bei Bedarf tiefer einsteigen kann.
Vor mir steht inzwischen ein Schälchen mit »Nudeln« aus gelierter roter Paprika und Fischfond, kombiniert mit Stabmuschel, Gurke und Wachtelei. Ein kühler, milchiger Jus aus Pinienkernen wird dazu noch angegossen und ergibt ein im Wesentlichen sahnig-gurkiges Geschmacksbild vor einem leicht maritimen Hintergrund. Etwas eigentümlich, aber hervorragend. (8/10)
Um norwegische Königskrabbe geht es beim nächsten Gericht. Ihr gezupftes Fleisch wurde unter anderem mit Qualle, Kürbis, Chungjang (schwarze Bohnenpaste) und koreanischem Senf vermengt und ist in einem kühlen, grünen Sud aus Buchu (ein knoblauchähnliches Rautengewächs), Kombucha, Essig und Zitrone angerichtet. Der erfrischende Sud harmoniert auf süffige Weise mit dem herzhaft abgeschmeckten Krebsfleisch. Das Ganze ist noch mit einem pfeffrig schmeckenden Algen-Granité getoppt; und während ich kein Freund von gefrorenen Zutaten in herzhaften Gerichten bin, ist die gesamte Komposition hier herausragend gut – und wird mit jedem Bissen noch ein bisschen besser. (9/10)
Die nächste exquisite Kleinigkeit ist eine Komposition aus mit Zitronenthymian- und Pinienzapfen-Öl mariniertem Thunfischbauch mit Zuckererbsen, Ganjang (koreanischer Sojasauce) und einem Gelee aus Kohl und Zuckererbsen. Eine große Nocke Kristal-Kaviar toppt das Ganze. Bereits mit den Grundprodukten – Thunfisch, Erbse und Kaviar – erlebt man rare Spitzenqualitäten, doch erst die Zubereitung mit den sehr aromatischen Saucen fügt die Komponenten besonders harmonisch zusammen. Das Gericht ist kühl, schlank und bietet eine konzentrierte Umami-Tiefe, ohne salzig zu sein und die Aromen zu überdecken. Perfekt und aufwühlend. (10/10)
Die koreanisch schlichte Ästhetik aller Gerichte ist äußerst ansprechend und spiegelt sich auch im folgenden Gang wieder. Bildhübsch sind hier zwei Tranchen von geräuchertem und mariniertem Bonito in einem Doenjang-Sud angerichtet, auf Basis von Sojabohnenpaste, Abalone-Fond, Sardelle und Knoblauch. Der umamibetonte Sud ist angenehm warm und beinhaltet unter dem Bonito noch die weiteren Meereszutaten Abalone und Seeteufelleber. Die drei exquisiten Produkte stehen qualitativ alle für sich, bilden jedoch auch zusammen ein besonders harmonisches Ensemble. Der kühle Bonito ist von herausragender Qualität und kontrastiert appetitlich den warmen Sud. Erneut großartig. (9/10)
Schlichtheit auf höchstem Niveau setzt sich fort mit Seegurke. Zwei Stücke des glitschig-gelatinösen Meerestiers wurden getrocknet und wieder rehydriert – eine in einigen Teilen Asiens verbreitete Technik. Unter anderem verändert sich dadurch die Textur dahingehend, dass die Seegurke zarter und poröser wird und dadurch bspw. Saucen besser aufgenommen werden. Die Seegurke ist mit »Eifäden« getoppt und in zweierlei Saucen angerichtet: einer blumig-pfeffrigen, dicklichen Sauce auf Garnelenbasis und einer fruchtig-scharfen Gochugaru-Sauce. Beides zusammen erinnert geschmacklich an die würzig-rauchigen Aromen von XO-Sauce. Zu dem Ganzen gibt es separat eine kleine Schüssel herzhaft gewürzten Reises mit Zucchini. Das Kombinieren der Zutaten bereitet viel Spaß und ergibt immer wieder neue sensorische Zusammenhänge, die alle nicht weniger als Weltklasse sind. (9/10)
Das Meer bleibt Thema. In einem Schälchen mit einem warmen, süßlich-herzhaft duftenden Sud auf der Grundlage von Maiskolbenblättern, Chinakohl und Bonitoflocken wurde der kostbare Fisch Glänzender Schleimkopf zusammen mit Garnelen, Tintenfisch und weißen Rübchen eingebracht. Ein leichtes Räucheraroma liegt über allem, und wer über diesem Schälchen nicht ein paar Mal tief einatmet, verpasst etwas. Der edle Fisch ist saftig, buttrig, äußerst zart, die Garnelen überraschend aromatisch, die Rübchen angenehm bissfest und der warme Sud ein Elixier aus reinem Wohlgeschmack. Handwerk, Qualitäten und eine außerordentlich harmonische Abstimmung von Aromen machen dieses kleine Schälchen zu einem Fest für alle Sinne. (10/10)
Beim letzten herzhaften Gang geht es um koreanisches Barbecue. Das Zubereiten von Fleisch hat in Korea große Tradition. Gerade deshalb ist es verwunderlich, dass für diesen Gang Wagyu verwendet wird und nicht etwa das renommierte Hanwoo-Rind aus Korea. Ein Bezugsproblem dürfte es hier in New York nicht geben; ich befürchte eher, dass man hier einer bestimmten Erwartungshaltung für bekanntere Luxusprodukte nachgibt. Natürlich ist auch das Wagyu – hier in der Qualitätsstufe A5 – hervorragend. Es wurde für diesen Gang mit verschiedenen Zutaten mariniert, gegrillt und auf einem Gamja-jeon platziert, einer Art Kartoffelpuffer. Eine Sauce aus Tomaten und der Würzpaste Ssamjang verbindet die Komponenten. Eine weitere, aromatisch komplexe Chopi-Sauce auf der Basis von Hühnerfond, Rind, Kalb, Gemüsen und Gewürzen rundet alles süffig-pikant ab. Der übrig bleibende Sud eignet sich besonders gut, um die dazu separat servierten kalten Nudeln mit Alge und Perilla darin zu stippen. Auch an diesem Gang ist alles auf höchstem kulinarischen Niveau. (9/10)
Das erste Dessert ist dann ein Sahneeis mit koreanischem Ysop, Vanille und Thymian – wunderbar blumig und cremig –, dazu gibt es ein Granité von koreanischer Birne sowie Olivenölpuder. Durch die floralen, süßholzähnlichen Aromen des Ysop und der üppigen Textur des Eises, gefällt mir diese kleine Abkühlung ganz besonders gut. (8,5/10)
Auch das zweite Dessert ist ein Eis, nun aus Süßkartoffel. Es schmeckt eher nach Karamell statt nach Kartoffel und ist auf einem Schaum von Sujeonggwa platziert, in Anlehnung an einen koreanischen Punsch mit Zimt. Etwas Walnuss-Crumble fügt dem Ganzen eine angenehme Knusprigkeit hinzu. Das ist unbeschwerter Dessert-Genuss auf höchstem Niveau. (9/10)
Mit einem Manhattan Daisy-Cocktail mit Calvados und Mezcal (26 $) lasse ich den genussreichen und entspannten Abend ausklingen. Küchenchef Junghyun Park, der persönlich nicht in Erscheinung getreten ist, serviert im Atomix eine herausragende progressive koreanische Küche, der ich selbst in Korea noch nicht auf diesem Niveau begegnet bin. New York – man kann nur staunen.