Loumi – vom Hobby zur Berufung
Es ist Donnerstag, der 29. August. Morgen habe ich eine Reservierung im Loumi in Berlin, aber mir ist schon heute danach, mit meinem Bericht zu beginnen – bevor überhaupt dort gewesen zu sein.
Der Grund für dieses Vorpreschen liegt in meiner besonderen Vorfreude auf das Essen. Das Loumi habe ich irgendwann bei Instagram entdeckt, als es noch kein Restaurant war, sondern ein Hinterhofprojekt in einer Privatwohnung, so, wie es in Berlin üblich ist, um groß rauszukommen.
Teller aus deutschen Restaurants erkennt man – das meine ich rein deskriptiv – sehr oft an ihrer Anrichtweise in Verbindung mit den gewählten Produkten. Noch immer sind in der gehobenen Küche breite, flache Teller, auf denen akkurat konstruierte Komponenten auseinandergespreizt angerichtet sind und mit Messer und Gabel gegessen werden, die Regel. In den Spitzenrestaurants im Ausland, ob in Kalifornien, Kopenhagen oder Hongkong, ist das meistens anders: Die Tellerästhetik ist reduzierter, kompakter, »produktzentrischer« und meist in tieferen Tellern oder Schüsselchen angerichtet, um mit Löffel, Gabel oder Stäbchen genossen zu werden.
Was ich auf den Fotos des Loumi bisher gesehen habe, ist von genau einer solchen Ästhetik – dazu noch mit erkennbar seltenen Spitzenprodukten –, sodass ich die Gerichte stilistisch eher einem Spitzenrestaurant in den USA zugeordnet hätte als einem jungen, unbekannten Koch-und-Gastgeberin-Duo namens Karl-Louis Kömmler und Mical Rosenblat in Berlin.
Ich habe gerade das Menü auf der Website vor mir. Das führt Zutaten wie Tintenfisch und Sudachi auf, weitere rare Zitrusfrüchte wie Meyer-Zitrone und Yuzu, Thunfischbauch, bretonischen Hummer, Chawanmuschi, Beurre bordier, Myoga, Glänzenden Schleimkopf (Kinmedai), Sauce Périgourdine, Teardrop peas aus dem Baskenland, Steinpilze und N25-Kaviar. Mit solchen Produkten kann man eigentlich nur Großartiges herstellen. Dass das Menü nur 111 € kostet (zzgl. möglicher Extras), macht die Sache schon fast rätselhaft. Vielleicht muss man die Kirche auch erst mal im Dorf lassen.
So gespannt war ich vor einem Restaurantbesuch in Deutschland jedenfalls selten. Auf nach Berlin.
Das Loumi befindet sich an einer unscheinbaren Ecke in Kreuzberg im Erdgeschoss. Die Fensterfront ist jetzt im Sommer weit geöffnet und verlängert die Räumlichkeiten hinaus auf ein Stück überdachte Terrasse.
Innen gibt es eine kleine Küche mit L-förmig darum platzierten Tresenplätzen und noch einer Handvoll regulärer Tische in einem kleinen Gastraum. Das Interieur ist puristisch und ansprechend. Durch große Fenster blickt man vom Gastraum sowohl hinaus auf die Straße als auch ins Treppenhaus des Gebäudes, das die karge Industrie-Ästhetik des Restaurants unterstreicht und den Raum größer wirken lässt.
Weinseitig starte ich den Abend mit einem Champagner »Terroir« Grand Cru von Bonnaire & Paul Clouet (109 €). Die Weinkarte ist kompakt und mit gewissenhaft ausgewählten, aber vergleichsweise bescheidenen Flaschen aus unterschiedlichen Regionen ausgestattet. Die Mehrzahl der Weine liegt im zweistelligen Preisbereich. Das ist mehr als nachvollziehbar, wenn junge Menschen ein Restaurant mutmaßlich ohne große Investorengelder eröffnen. Die große Weinoper kann man hier (noch) nicht zelebrieren, aber es kostet keine Mühe, etwas Gutes zu finden. Nach dem Champagner, der schnell ausgetrunken ist – wir sind zu fünft –, geht es weiter mit einem 2022er Chablis 1er Cru von der Domaine de l’Enclos (79 €).
Zum Beginn stehen optional bretonische Kys-Austern der Sorte »No. 5 l’Étoile« in drei unterschiedlich verfeinerten Varianten auf der Karte (je 7 €). Ich probiere alle: pur mit gegrillter Zitrone; mit Ume-kosho-Mignonette, einer Essigsauce mit japanischem Pflaume-Chili-Gewürz; und mit an Ceviche erinnerndem Aguachile mit pikantem Wasabi-Öl, mein Favorit. Die kleinen, fleischigen Austern mit mildem Geschmack nach Meer sind eine Delikatesse, die ich großen Exemplaren immer vorziehe. Dass man hier sowohl in deren puren Genuss gelangen kann als auch in den Genuss der gekonnt säurebetonten Condiments, ist schon mal ganz hervorragend. (8/10)
Das Menü beginnt dann ganz offiziell mit einem Stück gebratenem japanischem Milchbrot (Shokupan), das mit dünnen, gegrillten Tintenfisch-Scheiben belegt ist. Die wurden auf einer carrot hot sauce platziert und mit Sancho-Pfeffer-Blättern und Guanciale kombiniert. Der nach Grillaromen, süßem Teig und dem ätherischen Pfeffer duftende Fingersnack schmeckt nach Sommer, ist betörend fluffig-knusprig, und auch die optimale Breite der Tintenfischstücke sorgt für ein perfektes Mundgefühl. Die von der Karottensauce und dem exotischen Pfeffer suggerierte Schärfe dürfte ruhig noch etwas präsenter sein; aber Schärfe wird ohnehin noch zum Leitmotiv des Menüs und ist hier vielleicht absichtlich als Auftakt dessen zu verstehen. Hervorragend ist das schon jetzt. (7,9/10)
Für den zweiten Gang wurden zwei Tranchen Balfégo-Thunfischbauch mit verschiedenen Gemüsen kombinert, darunter kleine wilde Tomaten, Japanischer Ingwer (Myoga) und Itachi-Gurke. Der Sud, in dem der buttrige Thunfisch und das herrlich aromatische Gemüse angerichtet sind, ist eine Vinaigrette auf Basis von fermentierten Erdbeeren und Morita-Chilis, was auch dieses Gericht mit einer – nun deutlichen – Schärfe ausstattet. Shiso-Blüten bringen blumige, minzige Aromen in die umami- und säurebetonte Kreation. Dass César Ramirez in seinem neuen Restaurant auch gerade Thunfisch mit kleinen Tomaten kombiniert, mag Zufall sein, unterstreicht aber mein Verorten dieser Küche westlich des Atlantiks. Ganz stark. (8/10)
Ein weiteres Extra, das ich einschiebe, ist eine gegrillte Belon-Auster mit einer »Hot Sauce Beurre blanc« (10 €). Die Muschel ist erneut von kompakter Größe, wurde in kleine Stücke zerteilt und ist mit der buttrigen, pikanten Sauce äußerst spannend und genussreich inszeniert. Das angenehme Meeresaroma der Muschel, hier intensiver als bei den Kys-Austern, wird geschickt von der Schärfe kontrastiert, die inzwischen überraschend zum roten Faden geworden ist. Dass man auf die – ansonsten souverän klassisch französisch fundierte Kreation – auch noch frische Sudachi hobelt, eine rare Zitrusfrucht aus Japan mit komplexen floralen Aromen und leichter Bitterkeit, ist bemerkenswert. (8,5/10)
Es geht weiter mit Blauem Hummer aus der Bretagne, der in mundgerechten Stücken in einem Chawanmushi und unterhalb einer schaumigen Sauce mit Piment d’Espelette versteckt ist. Sticht man mit dem Löffel durch die Kreation, gelangt noch eine ölige XO-Sauce zum Vorschein, die das Gericht mit einer tiefen Umamiwürze ausstattet. Frische Yuzu hat die Küche als weiteres As im Ärmel, um etwas florale, süßliche Zitrusfrische beizusteuern. Proportionen, Temperaturen, Handwerk, Qualitäten – und damit der Genuss – bleiben auf oberem Niveau. (8,5/10)
Ein Kopfsalatherz schmückt den nächsten Teller. Es ist mit diversen Kräutern und Blüten drapiert und erinnert damit an berühmte »Multi-Komponenten-Salate« von Michel Bras, Enrico Crippa (Piazza Duomo) oder Shinobu Namae (L’Effervescence). Hier im Loumi wird jedoch nicht ausschließlich auf gleichberechtigte, vielzählige Komponenten gesetzt; vielmehr bleibt allen Kräuterkombinationen, die man sich auf seiner Gabel zurechtbastelt, die Basis aus dem knackig-frischen Kopfsalatherz und einer lauwarmen, samtigen Muschel-Beurre-Blanc gemein. Die behutsam maritime, buttrige und appetitlich säurebetonte Sauce dient dabei als eine Art genüsslicher Ruhepol. Es ist ein »Dressing«, das sich der Kreation unterordnet und ihm dennoch Struktur gibt. In Salz eingelegte Meyer-Zitrone und Piemonteser Haselnüsse tauchen auch noch in der Komposition auf sorgen zusätzlich für spannende Akzente. Der rote Faden – die Schärfe – kommt bei diesem Gericht von den Kräutern selbst.
Dass man den Rest der Sauce mit einer dazu servierten Brioche feuilletée aufnehmen kann, macht das Ganze noch genussvoller. Qualitätspedanten wie ich könnten feststellen, dass die Brioche noch saftiger, noch buttriger und noch fluffiger sein dürfte; und sie könnten, als reine Tatsache, feststellen, dass es irgendwo auf der Welt noch eine Nuance aromatischerer Kräuter gibt. Aber großartig, fast schon zum Applaudieren, ist dieser Gang ohne jeden Zweifel. Das könnte man in jedem Drei-Sterne-Restaurant auftischen – bei manchen wäre ich sogar froh. (8,9/10)
Es ist jetzt auch Zeit für etwas Rotes im Glas. Nach einem kurzweiligen Austausch mit dem freundlichen Team fällt die Wahl auf eine Flasche außerhalb der Karte, ein 2013er Shiraz vom Weingut Luddite aus Südafrika, der durch seine Reife spannender ist als jüngere Jahrgänge dieses breit verfügbaren Klassikers. Dass die Flasche später mit 190 € auf Rechnung stehen wird, ist vor dem Hintergrund des deutlich geringeren Preisniveaus der Weinkarte überraschend, aber im Kontext dieses exzellenten Menüs – und Abends – einfach auch gerechtfertigt.
Ein weiterer Extragang sind hausgemachte Agnolini Mantovani (21 €), ein Pasta-Klassiker aus der Lombardei. Die halbrunden, hutförmigen Teigtaschen sind mit einer Farce aus Taleggio-Käse und Kartoffeln gefüllt und in einer mit Sarawak-Pfeffer und Lauchöl gewürzten Kombu-Pilzbrühe angerichtet. Das Gerichtet duftet wegen des aromatischen Pfeffers und der Pilze nach Unterholz, Erde und Wald; die Brühe erinnert geschmacklich an einen leichten Kalbsfond. Das Pastahandwerk ist sehr akkurat, aber es gibt Möglichkeiten zur Optimierung. So ist die Pasta etwas zu al dente, was bei gefüllter Pasta nicht zuträglich ist, und die Füllung zu fest. Kurzum, es fehlen ein paar Sekunden im sprudelnden Wasser. Wer schon mal die berühmten Fagotelli von Heinz Beck nachgekocht hat, weiß, dass das Timing, um beides perfekt hinzubekommen, äußerst knifflig ist. Am Ende bleibt aber auch dieser Teller ein sehr guter. (7/10)
Der nächste Gang thematisiert Glänzenden Schleimkopf, auch bekannt unter dem japanischen Namen Kinmedai oder dem Spitznamen Alfonsino. Ein quaderförmiges Stück des edlen Fischs, der in diesem Fall von den Azoren stammt, wurde behutsam über Holzkohle gegrillt und ist mit ebenfalls gegrillten und mit Pancetta drapierten Zucchinistücken in einer pikanten Sanddorn-Kosho-Sauce angerichtet. Der äußerst delikate, mild-süßliche Geschmack des Fischs und seine zarte, buttrige Textur machen ihn so begehrenswert. Wenngleich der Fisch in Deutschland auch zu beschaffen ist, bin ich ihm bisher, mit einer Ausnahme, nur in Spitzenrestaurants im Ausland begegnet, vor allem in den USA und in Japan. (Zuletzt genoss ich ihn gerade im Addison in San Diego in einem zwar ebenfalls puristischen, aber etwas komplexeren Arrangement.)
Der Fisch auf diesem Teller ist heiß und saftig, die Grillaromen sind angenehm präsent, aber nicht bitter, und der Fisch ist entschuppt, was am Gaumen angenehm ist. Fast noch bemerkenswerter ist die Zucchini der Sorte Tromboncino, die ebenfalls sehr heiß ist und einen perfekten Garpunkt aufweist: knackig, aber ungemein saftig und sehr aromatisch. Der darauf drapierte Bauchspeck sorgt für Salz und Schmelz. Das ist ein fast schon japanisch schlichtes, eindrucksvolles Gericht mit Spitzenzutaten; hier kann man nur noch mit weiterer Komplexität und obsessiven Justierungen am Gargrad des Fischs Optimierungen erreichen. (8,5/10)
Dann folgt ein weiterer Einschub in Form eines Potpourris mehrerer großartig klingender Zutaten. Da wären spiralförmige Streifen von gegrilltem Tintenfisch, Teardrop peas, die auch »grüner Kaviar« genannte baskische Delikatesse, »N25 Kaluga Hybrid«-Kaviar und Lauchöl (49 €), das Ganze angerichtet in einem Dashi von geräuchertem Schinken. Und das ist leider auch gleich das Problem, denn das Gericht ist nicht nur eine Nuance zu weit auf der salzigen Seite, sondern jenseits von Gut und Böse. Mir tut das in diesem Moment fast mehr für das Restaurant leid als für meinen Genuss, daher bringe ich es auch nicht übers Herz, etwas anzumerken und esse alles auf. Immerhin möchte ich den (ohnehin schon salzigen Kaviar) und die delikaten, süßen Erbsen nicht verschmähen. Vermutlich ist nicht einmal reines Salz ursächlich, sondern der als Dashi ausgekochte Schinken. Dass man hier auch mal daneben liegen kann, ist schon fast beruhigend. (Wegen der famosen Zutaten dennoch 6/10.)
Der nächste Wein ist wieder weiß, ein 2018er »Octave« vom griechischen Weingut Sous le Végétal (64 €) – mineralisch, »salzig« und eine gute Empfehlung des Restaurant-Teams.
Das bisher ziemlich emotionale Menü geht weiter mit einem Rochenkotelette aus der Bretagne, dazu Neuseelandspinat, Kirschtomaten und, laut Menü, einer Sauce Périgourdine. Der Fisch ist perfekt goldbraun gebraten, und das Fleisch, das man, wie bei Rochen üblich, von langen Gräten herunterschiebt, ist köstlich – zart, saftig und aromatisch, mit leichten Röstnoten. Die hohe Qualität des Fischs wirft die Frage auf, warum man Rochen nicht öfter begegnet. Dazu passen die frischen Gemüse und die appetitanregende, leicht säurebetonte Sauce, in der ich jedoch keinen schwarzen Trüffel ausmachen kann – eigentlich das Markenzeichen einer Sauce Périgourdine. Ein bisschen zu sehr auf der salzigen Seite ist dieser Gang leider auch; trotzdem ist das sehr gut, sehr schlicht, sehr fokussiert. (7/10)
Die Desserts hieven das Niveau noch einmal so hoch, dass man nicht daran zweifeln muss, wie hervorragend das Menü bisher weitestgehend war. Französischer Weinbergpfirsich mit Himbeersorbet, spanischer Marcona-Mandel und einer Sahne mit Oolong-Tee schmeckt wie eine fruchtige Wolke, nicht zu süß, dafür mit einem geschmackvollen Zusammenspiel von Himbeere, Pfirsich und Hibiskus. Wundervoll! (8,5/10)
Und auch der letzte Streich zieht alle Register eines fast vollkommenen Desserts. In diesem Fall thront ein ganz leicht gesalzenes und mit Steinpilzöl aromatisiertes Braune-Butter-Eis auf einem Karamell-Schokoladen-Crumble. Das schmeckt wie Salzkaramell, nur feiner, das Pilzöl bringt eine spannende, leicht erdige Nuance ins Spiel. Ganz schlicht, ganz groß. Man atmet noch mal einmal tief durch. (8,9/10)
Das Menü war eine Wucht. Stilistisch, qualitativ und handwerklich. Ich kam bei vielen Gängen regelrecht ins Grübeln, ob es überhaupt noch besser geht, aber meine schnell abrufbaren Vergleiche zu vielen Speisen auf allerhöchstem Niveau bejahen das – wenn auch in Nuancen, die für die meisten Gäste unerheblich sein dürften. Es geht dann nur noch um die Frage, was besser als hervorragend ist. Aber dass man sich hier, in einem blutjungen Restaurant mit einem blutjungen Autodidakten in Berlin-Kreuzberg überhaupt solche Fragen stellen kann, ist eine Sensation.
Nahe liegende Vergleiche zum ebenfalls großartigen Ernst schlagen fehl, weil hier im Loumi nicht minimalistisch japanisch mit regionalem Fokus gekocht wird, sondern reduziert weltoffen mit dem möglichst Besten.
Karl-Louis Kömmler kocht so souverän schlicht, produkt- und genussbetont, als hätte er sich nach Jahrzehnten des aufwändigsten Kochens von allem Ballast befreit. Dabei fängt er gerade erst an. Was soll da jetzt noch kommen außer minutiösen Optimierungen und einer noch herausfordernderen Produktbeschaffung? (Ein paar Ideen hätte ich: Wie wäre es z. B. mit Seeigel aus Hokkaido, Ezo-Abalone, Matsutake-Pilzen und Miyazaki-Rind?) Wer so früh schon damit anfängt, längst Hervorragendes zu perfektionieren, hat das Potenzial zu ganz Großem. Man darf nur hoffen, dass das Kochen nicht Kömmlers temporäres Hobby ist, denn es ist zweifellos seine Berufung. Den »Beruf« hat er dabei mal eben übersprungen.