Jordnær – überirdisch
Der Taxifahrer muss wegen einer Straßensperrung etwas abseits der eingegebenen Adresse halten. Ich schaue lieber noch mal bei Google Maps nach, ob wir hier richtig sind, dann rutscht mir fast das Herz in die Hose. Es sieht für einen kurzen Moment so aus, als sei der Fahrer eine halbe Stunde in die falsche Richtung gefahren. Ist er aber nicht, mir spielte die App nur kurz einen Streich. Eine Viertelstunde vor meiner Reservierung an diesem Mittag kann ich so etwas nicht gebrauchen.
Aber auch an der tatsächlichen Adresse, die ich drei Minuten später zu Fuß erreiche, sieht es zunächst auch nicht so aus, als erwarte mich hier in Gentofte, einem Vorort von Kopenhagen, Dänemarks jüngstes Drei-Sterne-Restaurant. Oder soll das in diesem seltsamen Hotel mit orangegelber Fassade sein?
Die Frage klärt sich spontan mit dem Erscheinen von Tina Kragh Vildgaard im Eingang des Hotels, die das Jordnær zusammen mit ihrem Mann, Küchenchef Eric Vildgaard, führt. Warum man ausgerechnet in diesem Hotel untergekommen ist, erfrage ich nicht.
Beim Betreten des Restaurants im Erdgeschoss taucht man für die nächsten Stunden in eine andere, geschmackvollere Welt ein. Das Interieur ist in einer hellen Farbpalette gestaltet, die Fenster lassen viel natürliches Licht in den Raum, zusätzlich sorgt eine sanfte Beleuchtung am Tisch für Behaglichkeit. Sehr schick, alles. Das ist so ein Restaurant, in dem man sich beim Ankommen am Tisch sofort wohlfühlt, was auch an dem charmanten, persönlichen Empfang liegt.
Stimmung und Vorfreude aufs Mahl verlangen jetzt nach einem Aperitif. Anstatt Champagner vom Wagen, der schon angerollt wird, bestelle ich eine Flasche 2018er Chassagne-Montrachet von Benoit Ente (1550 DKK, ca. 208 €) und für danach – wir sind zu viert, und der nächste Wein muss etwas atmen – einen 2010er Clos de la Coulée de Serrant von Nicolas Joly (ca. 285 €). Man tut gut daran, sich schon im Voraus mit der Weinkarte auseinanderzusetzen, die online einsehbar ist und zu den umfangreichsten zählt, die mir in letzter Zeit begegnet sind. Alternativ gibt es drei Weinbegleitungen zwischen umgerechnet ca. 315 € und 670 €.
Der Küchenchef kommt persönlich an den Tisch, um den Ablauf zu erläutern. Es folgen zunächst sechs Amuse-Bouches, erklärt er, dann acht reguläre Gänge (nur Fisch und Meeresfrüchte, kein Fleisch) und zwei Desserts. Vom Menüpreis (ca. 510 €) erfährt man nichts – ein Trend, dem ich in der internationalen Spitzengastronomie zuletzt öfter begegnet bin. Besonders kritisch finde ich das nicht, da hier kaum ein Gast sitzen dürfte, der nicht ungefähr weiß, worauf er sich in einem Restaurant dieser Klasse einlässt – es steht sonst auch alles auf der Website.
Den Auftakt dieses Mittagessens macht eine Tartelette mit Romanesco, behutsam bissfest gegart, platziert auf einer Creme mit Comté, Piment d’Espelette und etwas Zitrone. Das ist handwerklich perfekt, erinnert wegen des lässig fettigen Teigs in Verbindung mit dem Käse entfernt an Käsestangen-Knabbergebäck, ist dabei aber dank leichter Zitrusfrische, einem Hauch Schärfe und zarter Knusprigkeit sehr elegant. Mehr als hervorragend. (8,5/10)
Eine weitere Tartelette (aus Mandelmehl) mit cremig-fluffiger Königskrabbe, Sake, Dillblüten und weiteren Kräutern ist ebenfalls leicht pikant, nussig-maritim und saftig; die Blüten dazu sind reine aromatische Poesie. Die fein abgestimmte Temperatur, vielleicht zwei Grad kühler als der vorherige Snack, muss man ebenfalls als essenzielle Zutat verstehen. Meisterhaft. (10/10)
Mit einer Crustade mit dänischem Hummer, Forellenrogen, Yuzu-Emulsion und Sansho-Pfeffer-Blättern bleibt man dem Konzept der Teig-/Fischkombinationen treu. Das ist eine gute Idee, denn auch dieser Fingersnack ist ein kleines kulinarisches Meisterwerk. Die Temperatur wurde noch einmal etwas abgesenkt, was hervorragend zum Rogen passt, der durch die Kühle besonders präsent wirkt. Die eleganten Zitrusfrüchte und der exotische Pfeffer steuern ihre erwartungsgemäße, floral-pikante Magie bei, während hauchdünne, frittierte Algenfäden Knusperspaß liefern. Das ist erneut qualitativ und handwerklich am Anschlag. (10/10)
Endgültig die Augen schließen muss ich bei einer dunklen Reis-Tartelette, die mit in Wasabi-Öl mariniertem Thunfischbauch (Otoro) aus Cadiz und Kaluga-Kaviar gefüllt ist. Weitere Zutaten – Sojasauce, Myoga und Shiso-Blüten – tauchen in der schnell vorgetragenen Beschreibung des Küchenchefs ebenfalls auf, der die Kreationen bisher alle persönlich am Tisch erläutert. Der Snack, der gerade noch als „Ein-Häpper“ durchgeht, ist überwältigend. Salz, Umami, Schmelz, Knusprigkeit und Schärfe erzeugen das Gefühl einer Welle, die am Gaumen tosend zusammenbricht. Dennoch sind alle Komponenten differenziert wahrnehmbar, jedes platzende Korn Kaviar, jedes Stück Thunfisch mit dessen üppiger Textur. Extrem und sensationell. (10/10)
Die nächste Petitesse ist eine bezüglich ihres Teigs japanisch inspirierte Waffel in Rosettenform, die mit einem cremigen Shrimpsalat mit Schnittlauch gefüllt (!) und mit einer Portion Baeri-Kaviar getoppt ist. Der fragile Snack ist für mehrere Bissen konzipiert; ich halte wegen der filigranen Konstruktion meine Hand schützend darunter, als ich sie zum Mund führe. Die cremige, frische Garnelenfüllung in Kombination mit der leichten, knusprigen Waffel ist wundervoll und handwerklich erneut höchst geschickt. Alle Teigelemente begeistern bisher mit ganz unterschiedlichen Texturen. Der Kaviar dazu als salzige Krönung ist das i-Tüpfelchen. Auch dieser Snack macht sprachlos. (10/10)
Die letzte Kreation dieses phänomenalen Auftakts ist ein Teigball auf Basis von Eiern und Reismehl nach Takoyaki-Art. Das weiche, im Gegensatz zu der Streetfood-Referenz aus Osaka erstaunlich leichte Bällchen ist mit dem Scherenfleisch von mit Yuzu aromatisiertem Hummer gefüllt. Auf der Kugel befindet sich eine signifikante Portion Kaviar, darauf wiederum eine mehrere Zentimeter hohe Schicht gehobelter Trüffeln aus den Marken. Es erfordert etwas Geschick, das Konstrukt sicher in den Mund zu verfrachten (bloß nicht kippen!), aber die Vorsicht wird erneut mit einer Geschmacksexplosion belohnt. Der nun auch erstmals heiße Snack schmeckt nach Erde, Teig, Salz, Wald und Meer zugleich. Das ist atemberaubend gut, vielleicht diesmal eine Nuance zu üppig, was aber auch an der Position des Snacks in dieser Abfolge liegen mag. In jedem Fall Weltklasse. (9/10)
Wenn man bedenkt, dass meine Bewertung 10/10 nicht nur kulinarische Perfektion ausdrückt – dafür steht bereits 9/10 –, sondern zusätzlich noch eine tiefe Ergriffenheit, kann man sich vielleicht vorstellen, wie aufwühlend bereits dieser Einstieg war.
Ein äußerst feinsinniges Gericht mit roher, nur leicht gesalzener norwegischer Jakobsmuschel am Spieß leitet das Menü dann offiziell ein. Muschelstücke und Blüten zieht man mit den Zähnen vom Spieß und erlebt eine Jakobsmuschel von absoluter Ausnahmequalität – nussig und bissfest. Die leicht herben, süßlichen Blüten setzen dazu einen spannenden Kontrast. In dem Schälchen darunter fasziniert ein leicht temperierter Sud mit weißer Johannisbeere, Stachelbeere, Rosenöl und verschiedenen Blüten. Dieses Zusammenspiel schmeckt nach Kirschblütensaison in Kyoto und nach dem Film Lost in Translation. Bilder, Blüten und Emotionen: das ist ganz großes Kino. Und überhaupt: Wie kann ein Mann wie Vildgaard – tätowierter Kraftmensch mit markanter Vergangenheit – etwas so Feinsinniges kreieren? Das hat schon etwas Poetisches. (10/10)
Inzwischen leuchtet der reife Chenin Blanc im Glas – elegant säurebetont, mit wachsig-nussigen Aromen und einer schimmernden, goldenen Farbe. Dass der nächste Gang auch farblich perfekt zum Wein passt, ist ein glücklicher Zufall. In dem Glasschälchen vor mir befindet sich eine gelierte, leicht mit Vanille aromatisierte Essenz vom Kaisergranat. Am Tisch wird noch eine lauwarme Tomaten-Bouillon mit Olivenöl angegossen, die das kühle, geschmacklich filigrane Krustentiergelee um kraftvolles Umami bereichert. Im Hintergrund rundet die Vanille das Ganze ab, subtil und elegant, als wäre ein Parfümeur am Werk. Technik, Einfallsreichtum, Präzision und Genuss bleiben auf einem aufwühlenden Niveau. (10/10)
Für den nächsten Gang verwendet Vildgaard eine Gillardeau-Auster »No. 3«, die für ihn das beste Verhältnis zwischen »Fett« und Biss aufwiesen, erläutert er am Tisch. Von der Auster wird in dem Gericht nur das innere, filetartige Stück verwendet. Es wurde zwecks besserer Essbarkeit in der Mitte zerteilt und liegt in einem optisch kontrastvollen, kühlen Elixier in Form von Buttermilch, Wasabi-Öl, Dill und Meerrettich. Das Erlebnis am Gaumen ist elektrisierend. Mal rüttelt der pikante Wasabi wach, um dann von der Buttermilch im Zaum gehalten zu werden, mal ist es der kräuterfrische Dill, der im Zusammenspiel mit dem pikanten Meerrettich für Spannung sorgt. Die perfekte Temperatur des Gerichts – es würde wärmer nicht so gut funktionieren – zeigt erneut, wie präzise man hier arbeitet. Alles nur zum Staunen. (10/10)
Inzwischen ist auch schon ein weiterer Wein im Glas, ein (hervorragender) 2019er Gevrey-Chambertin »Vielle Vigne« von der Domaine Fourrier (ca. 305 €).
Das Menü geht in angenehmem Tempo weiter und überfordert trotz seines Umfangs bisher an keiner Stelle. Jetzt folgt ein kleiner Gang mit Maränenrogen, der in eine viskose Mischung aus flüssigem Eigelb und schaumigem, geräuchertem Käse eingebettet ist. Was schwer klingt, wirkt trotz der gehaltvollen Cremigkeit überraschend leicht. Wie bei einem luxuriösen Frühstücksei mit Kaviar treffen hier spannungsvoll leicht unterschiedliche Temperaturen aufeinander. Ansonsten formen maritimes Salz, zarte Räucheraromen und die cremigen Texturen dieses sehr ausgewogene, fast schon ruhige Gericht. (9/10)
Die Königskrabbe, die bereits zu Beginn des Menüs in einer Tartelette ihren Auftritt hatte, wird im weiteren Verlauf erneut verarbeitet, etwa in diesem nun folgenden Potpourri, das als Chawanmushi präsentiert wird. Das saftige Fleisch aus den Armen der Krabbe wird in einem Schälchen mit einem kühlen, mit Yuzukoshō gewürzten Shrimptatar, Kaviar, Sanchopfeffer und Shisoblüten kombiniert, während ein warmer, sommerlich duftender Sud aus Ingwer und Zitrusfrüchten alles umhüllt. Erst am Boden findet sich der namensgebende japanische Eierstich, der dem Gericht etwas mehr Üppigkeit verleiht. Aus dem Schälchen steigt der Duft von Zitrusfrüchten, aromatischem Pfeffer und Meeresbrise empor. Am Gaumen vereinen sich Wärme und Kühle, filigrane und kräftige Aromen sowie eine dezente Schärfe auf harmonische Weise, trotz der scheinbaren Gegensätze. So etwas kocht man nicht, man komponiert es. (10/10)
Eine Art Brioche, die zur Hälfte von japanischem Milchbrot inspiriert ist, wird als Zwischengang präsentiert. Der Begriff »Butter« fällt bei der Beschreibung mehrfach, die sich in verschiedenen Formen sowohl im Teig, auf dem Teig als auch separat daneben befindet. Die genüsslich fettige Angelegenheit macht jetzt auch noch denjenigen satt, der nach Kohlenhydraten ringt. Ich bewahre ein Stückchen davon auf, um mich nicht sofort satt zu essen.
Nur noch ein pures Stück Königskrabbe könnte schlichter sein als die Kombination des folgenden Beinstücks mit einer schaumigen, buttrigen Sauce. Diese ist mit dänischen Miesmuscheln, Vadouvanöl und Estragon zubereitet. Dabei liefern die Miesmuscheln eine leichte Salzigkeit und Süße, während das Vadouvanöl eine warme, leicht süßliche Curry-Note mit einem Hauch von Rauchigkeit beisteuert. Der Estragon liefert dazu kräuterige Frische und eine feine Anis-Note, die die reichhaltige Sauce geschmacklich aufhellt und erfrischt. Insgesamt entsteht eine harmonische Kombination aus samtiger Textur, würziger Tiefe und frischer, maritimer Leichtigkeit. Das zarte, süßliche und heiße Fleisch der Königskrabbe harmoniert dazu perfekt. Das edle Krebstier ist – in allen bisherigen Ausführungen – von der vielleicht besten Qualität, die ich je probiert habe, mindestens auf einer Stufe mit hochspezialisierten japanischen Restaurants wie Azabu Yukimura oder Kitcho Arashiyama. (10/10)
Und das Menü ist noch längst nicht vorbei. Der nächste Gang erlaubt aber ein kurzes Durchatmen in irdischeren Gefilden. Ein Stück Steinbutt ist handwerklich bemerkenswert als eine Art farcierte »Schnitte« angerichtet. Die Farce besteht aus Brunnenkresse, Zitrone und Thymian. Der Fisch selbst ist geschickt eingeschnitten, wie ein Stück Tintenfisch in einem japanischen Sushi-Restaurant, und goldbraun gegrillt. Dazu gibt es verschiedene Saucen auf Basis von Brunnenkresse bzw. Noilly Prat. Ein Kräuter- und Blütensalat unterstreicht die Frische. Das Gericht ist exzellent, ihm fehlt aber die Perfektion, die allen anderen Speisen bisher innewohnte. Der Fisch könnte heißer sein, die Farce wirkt unnötig kompliziert, vor allem fehlt der kompromisslose Fokus auf das Produkt, der die bisherigen Gänge auszeichnete. Dennoch bleibt das ein hervorragendes Gericht, vor allem wegen der exzellenten Saucen. (8/10)
Der letzte herzhafte Gang treibt den soeben vermissten Produktfokus dann wieder auf die Spitze. Ein Kaisergranat der Superlative – von der nussig-süßen Geschmacksqualität über das präzise Auslösen bis zur perfekten Holzkohlegarung – benötigt beim nächsten Gang nichts weiter als eine mit Kirschblüte und Yuzu aromatisierte Beurre Blanc, um wahre Begeisterung auszulösen. Die Sauce ist floral, erfrischend säurebetont, zugleich üppig und perfekt portioniert, sodass dieses Gericht in seiner schlichten Produkthuldigung zu einem weiteren kulinarischen Meisterwerk wird. Von all den Kaisergranaten, die ich bisher probiert habe, gehört dieser mit zu den allerbesten. (10/10)
Zum süßeren Teil des Abends bestellen wir aus der Weinkarte noch einen 2014er Vin de Paille von der Domaine Ganevat aus dem Jura (halbe Flasche ca. 214 €).
Das Pré-Dessert ist italienische Meringue, also sehr fester Eischnee, der sich zusammen mit einem Milcheis zu einer weißen, kühlen, cremigen Masse verbindet. Die wiederum wurde in einen kühlen Sud aus Honigmelone, Eisenkraut, Holunderbeeressig und Lavendel platziert. Die schlichte, unverkopfte Anrichtweise spricht mich sofort an – nach wie vor ist so etwas das völlige Gegenteil der oftmals über-angerichteten Desserts aus deutschen Patisserien. Der Inhalt dieses kleinen Schälchens fängt geschmacklich einen ganzen Sommer ein; es wäre auch am Mittelmeer gut verortet. Ich putze es blitzblank. (10/10)
Für das letzte Dessert sind dänische Walderdbeeren zusammen mit einem Roseneis und Lychee-Mousse in einer Rhabarber-Sauce angerichtet. Das ist besser als alle Erwartungen, die man daran haben könnte, mit fein nuancierten Temperaturunterschieden, fabelhaften, intensiv aromatischen Erdbeeren und einer cremigen, quarkähnlichen Creme auf dem Grund des Schälchens. Besser kann ein Dessert nicht sein. (10/10)
Selbst die Petit-Fours, zu denen ich einen Filterkaffee bestelle, sind atemberaubend gut, als kämen sie – mir fällt keine andere Parallele ein – direkt aus dem Schlaraffenland. (10/10)
»Jordnær« bedeutet »bodenständig«, ein sehr ironischer Euphemismus für ein Restaurant, das mir heute eines der besten Essen aller Zeiten serviert hat. Die grandiosen Produkte, das präzise Handwerk, die feierwürdige Schlichtheit der Kompositionen – all das war nicht weniger als unvergesslich. Nach fünf Stunden Mittagessen habe ich auch schon wieder Appetit. Eine Reservierung steht auch schon, in der Kødbyens Fiskebar. Mal was Bodenständiges.