RE-NAA – ein norwegisches Terroir

Irgendwie muss man hier in Stavanger, im Südwesten Norwegens, schließlich auf sich aufmerksam machen, und sei es durch eine ausgefallene Schreibweise. Inzwischen dürfte dem Restaurant und namensgebenden Küchenchef Sven Erik Renaa die Aufmerksamkeit aber ohnehin sicher sein, denn seit Kurzem leuchten drei Michelin-Sterne über seinem Restaurant RE-NAA. Den Namen spricht man übrigens so ähnlich aus wie den des Autoherstellers Renault.

Das Restaurant befindet sich im Erdgeschoss des sehr empfehlenswerten Boutique-Hotels Eilert Smith im Zentrum der Altstadt, direkt am Wasser. Stavanger verfügt – für seine überschaubare Größe von knapp hundertfünzigtausend Einwohnern – verblüffend viele gute Restaurants mit oft hervorragend ausgestatteten Weinkarten. Wie immer, ist das alles ein Thema von Angebot und Nachfrage. Meine 48 Stunden vor Ort verbringe ich jedenfalls fast ausschließlich mit der Inanspruchnahme der verlockenden gastronomischen Möglichkeiten.

Das Essen im RE-NAA beginnt für alle Gäste recht früh; meine Reservierung ist um 18.30 Uhr, und im Restaurant sitzen bereits Gäste. Ich muss zum Glück nur mit dem Fahrstuhl nach unten fahren – so eine Restaurant-Hotel-Kombination ist immer sehr angenehm.

Küchenchef Renaa ist hier im Ort alles andere als ein Unbekannter; er betreibt hier noch weitere Lokale. Sogar am Flughafen trifft man auf seine Gastronomie. Das RE-NAA ist jedoch sein Aushängeschild. Mit nur acht Tischen und einer nahtlos in den Speisesaal integrierten Küche wirkt das Restaurant wie ein kleines, kreatives Kochstudio. Gleich drei Sommeliers helfen dabei, sich durch die exzellente und umfangreiche Weinkarte zu navigieren.

Die ersten Snacks des auf Fisch und Meeresfrüchte fokussierten Menüs (4500 NOK, ca. 380 €) werden in einem kleinen Loungebereich vor dem Restaurant serviert. Meiner Bitte nach einem Glas Weißwein aus dem Burgund kommt der Sommelier zielsicher mit einem 2021er Pouilly-Fuissé »Les Birbettes« vom Weingut Château des Rontets nach (ca. 24 €).

Eine Taco aus filigranem Roggenteig mit Heringsrogen setzt mit eleganten Raucharomen, recht prägnantem Salz und maritimem Geschmack ein erstes Ausrufezeichen (8,5/10). Eine ebenso feinknusprige Tartelette mit ­­­Taschenkrebs, Ingwer, Yuzu und Blüten, ebenfalls eher mutig gesalzen, begeistert danach mit der feinen Nussigkeit des Krebsfleischs in Verbindung mit floralen, zitrischen Noten und einer passenden Herbheit von den Blüten. Große Klasse. (9/10)

Eine Erbsenschote mit geschmacksintensiven Erbsen kommt mit Kaviar und Hühner-Garum. Der fragile Fingersnack bewegt sich aromatisch irgendwo zwischen Erbse und Huhn, mit einer leichten Schärfe im Hintergrund. Das ist hervorragend, nur der Kaviar geht etwas unter (8/10). Ein mit Lammtatar, Holunderbeeren und Ponzu gefülltes Röllchen schmeckt würzig nach ätherischem Wald und duftenden Kräutern (8,5/10).

Eine Praline mit cremig-kühler Farce aus Hühnerleber, verfeinert mit ätherischer Pinie und feinherber Schokolade, ist noch eine Nuance besser, mit feinen Texturen und exakt justierten Proportionen. (8,9/10)

Was man jetzt schon herausschmeckt, ist, dass hier jemand sehr gewissenhaft ein bestimmtes Terroir zu einer bestimmten Saison einfängt. Nach vielen (herausragenden) Menüs der letzten Zeit, die eher »internationalen« Charakter hatten, sehe ich diesem Menü, das gerade erst beginnt, mit Spannung und Vorfreude entgegen.

Das Glas Chardonnay wird noch einmal nachgefüllt, bevor ich dann direkt zum Rotwein übergehe. Meine Wahl fällt auf einen 2021er Gevrey-Chambertin 1er Cru »Combes aux Moines« der Domaine Fourrier (ca. 384 €) zu. Die hervorragende Domaine hatte ich gerade erst im Jordnær kennen gelernt.

Nun am Tisch wird als nächste Speise ein in seiner Schale angerichteter Seeigel aus Tromsø mit rohen Fjord-Shrimps, grünen Erdbeeren, Fingerlimette und einer Vinaigrette mit Zitronenverbene serviert. Die säurebetonten Zubereitungen unterstreichen die schroffe Meeresfrische des Seeigels und der Garnelen, dazu ergänzt eine leichte Bitterkeit dieses maritime Erlebnis der Extraklasse. Das ist sehr fein, qualitativ herausragend und einfallsreich inszeniert. (8,9/10)

Die eindrucksvolle Präsentation des Meeres aus der Umgebung setzt sich mit verschiedenen Muschelarten fort. Eine kleine, flache Auster aus Bømlo behält ihr authentisches Meeres-Aroma trotz einer gehaltvollen Sauce aus Buttermilch und Jalapeño sowie herben Akzenten von etwas Sauerklee und Pflaume. Eine Venusmuschel ist mit blumigem Yuzuöl und fruchtiger schwarzer Johannisbeere grandios abgeschmeckt, und eine Miesmuschel mit einer Sauce auf Basis von Hefe schmeckt üppig fleischig. Zum Schluss dieser Vorstellung überzeugt eine Mahagoni-Muschel aus Bergen mit ihrer typisch bissfesten Textur und einer schlanken, umami- und säurebetonten Tomatenessenz. Alles ist von höchster Qualität und, trotz der diversen Mitspieler, sehr authentisch. Das ist kreative, begeisternde Produktküche. (9/10)

Für den nächsten Gang wurde Makrele über Holzkohle gegrillt und in einer milchigen, kühlen Sauce angerichtet, die den natürlichen Fettgehalt des Fischs unterstreicht. Weitere Zutaten sind isländischer Wasabi, der sich allenfalls mild bemerkbar macht, und weiße Johannisbeere, die der Sauce etwas Herbes, Schroffes hinzufügt, was mich sofort an die Küstenlandschaft hier erinnert. Auf dem Grund des Tellers findet man noch feinkörnigen Rogen vom Seehasen, der eine elegante Salzigkeit beisteuert. Die rauchigen Noten der Makrele transportieren mich an ein Lagerfeuer am Strand. Assoziativer kann man eine Meereslandschaft kaum auf den Teller bringen. (9/10)

Der Tintenfisch des nächsten Gerichts stammt aus dem Skagerrak. Er wurde geräuchert, in fadenartige Streifen geschnitten und in Form einer Blume angerichtet. Gegrillte Zitrone und Piment d’Espelette rücken diese erste warme Speise des Menüs in die Nähe des Mittelmeers. Eine buttrige Sauce mit Gewürzen, die an Vadouvan erinnern, passen dabei nicht ganz zu dieser Empfindung, was den Gang angenehm mysteriös wirken lässt. Bemerkenswert gut ist die bissfeste Textur des Tintenfischs. In Verbindung mit der buttrigen Sauce erinnert das Gericht frappierend in Pasta. Das ist besonders eindrucksvoll, wenn man weiß, dass Renaa zur Hälfte Italiener ist. (9/10)

Die unprätentiöse Präsentation feinster Meerestiere fährt mit einer gegrillten Jakobsmuschel fort, die mit Koji und Algensalz gewürzt und in einer Sauce aus Gerste und Fenchel angerichtet wurde. Die Muschel ist bereits in mehrere Scheiben vorgeschnitten, was hilfreich ist, damit die Proportionen von Muschel zu Sauce bei jedem Happen so bleiben, wie der Küchenchef es vorgesehen hat. Die Jakobsmuschel ist von selten hervorragender Qualität, die Würzung mit dem intensiven Pilz und dem Algensalz jedoch eine Nuance zu markant – der Koji wirkt insgesamt recht »käsig«. Diese Kritik bewegt sich aber auf sehr hohem Niveau, denn dank des dazu servierten Sauerteigbrots bleibt von dem Gericht nichts übrig. Es lebe la scarpetta! (8,5/10)

Eine geräucherte und in Butter pochierte Gebirgsforelle aus Sirdal ist für den nächsten Gang sehr puristisch in einer buttrigen Vin-Jaune-Sauce angerichtet, die laktofermentierten weißen Spargel, Sardellen und Kombu ebenfalls zu ihren Zutaten zählt. Eine mild-salzige Nocke Osietra-Kaviar von einem regionalen Produzenten krönt den Fisch, der mit seiner üppigen Textur und perfektem Gargrad zu den besten lachsartigen Fischen zählt, die ich je probiert habe. Die souverän schlichte Anrichtweise ist mindestens genauso bemerkenswert wie die Qualität des Fischs. Das Brot hilft auch hier, den Teller blankzuputzen. (8,9/10)

Inzwischen habe ich parallel zum Gevrey-Chambertin ein Glas 2019er Chambolle-Musigny »Les Fuées« von Jacques-Frédéric Mugnier im Glas. Den hatte ich der Weinbegleitung entdeckt und nun nach einem Glas gefragt (das später mit umgerechnet ca. 60 € auf der Rechnung stehen wird – viel für ein Glas, aber ein fairer Kurs für einen so raren Wein).

Ein Stück Filet von gegrilltem Seeteufel wurde für den nächsten Gang mit einem Jus aus fermentierten Pilzen und Algen glasiert und in einer »Chicken Butter« mit Birkenessig angerichtet; Ackerbohnen und Herbsttrüffeln aus dem Piemont sind weitere Zutaten. Leider ist der Fisch deutlich erkaltet. Trotz seiner dennoch zarten Textur wirkt er auch leicht faserig, was ihn insgesamt jeglicher positiven Eigenschaften beraubt. Seeteufel verlangt eigentlich auch nach einem rustikaleren Kontext, der seine kräftige Struktur betont – hier wirkt er etwas blass. Die Herbsttrüffeln – ich ahne das schon – lassen die erdige Tiefe vermissen, die man von besonders gutem (Winter-)Trüffel kennt. Auch die Bohnen können mit einer zu rohen Konsistenz nicht überzeugen. Hier ist kompositorisch, qualitativ und handwerklich erstaunlich viel schiefgelaufen. Schwamm drüber – oder besser gesagt noch einen Schluck Chambolle-Musigny. (6,9/10)

Der letzte herzhafte Gang bringt ein Karreestück vom Lamm des Zulieferers Nyyyt aus Røysland auf den Teller. Das Fleisch ist perfekt rosé gegrillt und wird von einer dünnen, appetitlichen Fettschicht unter der knusprigen Haut ummantelt. Es ruht in einem besonders aromatischen Lammjus, der mit reduziertem Lammfett, Zitronenthymian und weiteren Kräutern verfeinert wurde. Geschmacklich überzeugt das Lamm durch ein authentisches Aroma und Saftigkeit; dennoch ist die Konsistenz etwas zu fest, um an das Niveau von so herausragenden Qualitäten heranzureichen, die ich zuletzt etwa im Addison erleben konnte. Begleitend gibt es dazu ein Chawanmushi mit Steinpilzen und Fenalår, einem geräucherten Lammschinken. Der japanisch inspirierte Eierstich versteckt sich unter einer schaumigen, leicht rauchigen Sauce. Das Niveau von allem ist hoch, und die ebenfalls dazu servierten Milchbuns kommen wie gerufen, um auch den letzten Tropfen der köstlichen Sauce auszukosten. (8/10)

Küchenchef Renaa wirkt den ganzen Abend auch aktiv im Speisesaal mit, serviert regelmäßig Gerichte an die Tische, liefert Erläuterungen und führt Gespräche mit den Gästen. Irgendwann verlässt er fast unbemerkt das Restaurant. Diese zurückhaltende und legere Art ziehe ich jeder »Ehrenrunde« vor, bei der Küchenchefs am Ende eines Abends ihr Lob von jedem Tisch einsammeln.

Das erste Dessert kombiniert confierte Mirabelle mit Timut-Pfeffer-Meringue und einem Feigenblatt-Eis in einer Sauce mit Earl-Grey-Tee, Shisoessig und Feigenblattöl. Die Kreation muss man etwas umständlich dekonstruieren (was mir lieber ist als Dekonstruiertes wieder zusammenzusetzen), aber die Mühe wird mit einem sinnlich aromatischen Erlebnis belohnt. Besonders ausgeprägt ist ein intensives, fast parfümiertes Feigenaroma in Kombination mit einer feinen Zitrusfrische vom Shisoessig und den floralen Noten des Earl-Grey-Tees. Die Meringue mit Timut-Pfeffer verleiht dem Dessert eine dezente Würze, während das cremige Feigenblatt-Eis schmeichelnd und »beruhigend« wirkt. Auch Süße wurde perfekt, das heißt in diesem Fall zurückhaltend, eingesetzt. (8,9/10)

Dessert Nummer zwei präsentiert ein cremiges Koji-Eis mit Fenchel-Krumen und einer Schokoladen-Tuile – Alge kommt auch noch irgendwo vor. Das Eis ist mit einer karamellartigen Sauce und einem winzigen, essbaren Pinienzapfen dekoriert. Ein entfernt an weißen Trüffel erinnerndes Aroma ist vermutlich dem Koji zuzuschreiben, der oft umami- und fermentierte Noten entwickelt, die erdig und pilzig schmecken. Dazu bringt der Fenchel – etwas drastisch durch den kaubedürftigen Fichtenzapfen akzentuiert – ätherische Frische, und die Karamellsauce Tiefe und Süße. Ungewöhnlich und hervorragend. (8,5/10)

Ein Dessertwagen mit Petits Fours bietet dann noch mal einen kurzweiligen Kontrast zu einem ansonsten modernen Ablauf. Ich probiere alles davon, von einem exzellenten Rhabarberkuchen über einen mit einer Zitronencreme gefüllten Choux bis zu verschiedenen Pralinen, unter anderem mit Haselnuss, Kaffee und Pinie. Alles ist auf hohem Niveau. (8,5/10)

Mit einem recht voluminösen Zimtbun meint man es dann ganz zum Schluss etwas zu gut. Ich nehme ihn mit aufs Zimmer, wo hier im Hotel grundsätzlich das Frühstück serviert wird.

Alles in allem war das ein außergewöhnliches Mahl, das eindrucksvoll und unprätentiös das ursprüngliche Terroir von Norwegens Küste einfing. Wenngleich ein starker Ortsbezug nicht immer alle kulinarischen Höheflüge bedienen kann und will, war der Besuch des RE-NAA für mich zweifellos eine Reise wert, besonders in Kombination mit diesem schicken Hotel und dem pittoresken Ort.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: RE-NAA (→ Website)
Chef de Cuisine: Sven Erik Renaa
Ort: Stavanger, Norwegen
Datum dieses Besuchs: 28.09.2024
Guide Michelin (Nordic Countries 2024): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 8,5 (Was bedeutet das?)
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