Le Gabriel – von Fell und Federn

Ich fliege heute nach Paris zum Mittagessen – morgens hin, abends zurück. Paradox ist daran, dass ich diesen Aufwand auf mich nehme, um ein Menü zu essen, dessen Thema nicht zu meinen größten kulinarischen Leidenschaften zählt: Wild. Dabei gäbe es durchaus auch andere Optionen.

Doch wenn eines von Frankreichs jüngsten Drei-Sterne-Restaurants, mit einem Küchenchef der alten Schule, der zehn Jahre lang an der Seite von Bernard Pacaud im L’Ambroisie gearbeitet hat, ein saisonales Spezial-Menü anbietet, das »La Chasse« (die Jagd) heißt, dann muss das außergewöhnlich sein. Es ist mein Lockruf, um in den Genuss des dritten Sterns zu gelangen, den ich bei meinem letzten Besuch hier im Le Gabriel noch verpasst hatte.

Das Restaurant befindet sich im luxuriösen Hotel La Réserve Paris, zu dem Attribute wie distinguiert, zurückgezogen und aristokratisch passen. Das Konzept kommt in Paris offenbar gut an. Das Hotel ist von morgens bis abends gut frequentiert (ich verbringe hier fast den ganzen Tag) und das Restaurant zum Mittagessen erwartungsgemäß ausgebucht.

Die Ruhe vor dem Sturm.

Obwohl ich schon in der vorausgegangenen Kommunikation angekündigt hatte, zum Wild-Menü kommen zu wollen, werden mir am Tisch noch mal alle Optionen präsentiert. Und die sind zahlreich: Es gibt noch ein Mittagsmenü mit vier oder fünf Gängen, ein auf die Bretagne, die Heimat des Küchenchef Jérôme Banctel, fokussiertes Menü in sieben oder neun Gängen, sowie ein etwas allgemeiner gefasstes Menü mit ebenfalls sieben oder neun Gängen. Das kleine Mittagsmenü kostet 98 €, die Neun-Gänge-Menüs 398 €. Mein siebengängiges Wild-Menü, von dem ich mich nicht abbringen lasse, kostet 378 €.

Die fast ausschließlich französische Weinkarte bietet einen speziellen Fokus auf die Weingüter des Hotelbesitzers Michel Reybier, zu denen renommierte Châteaux wie Cos d’Estournel und Cos Labory gehören; aber auch darüber hinaus hat man die Qual der Wahl, von diversen Weinen unter hundert bis zu über fünfzehntausend Euro für einen 2020er Romanée-Conti. Meine Wahl fällt auf eine Flasche 2018er Chassagne-Montrachet 1er Cru »Morgeot« (rot) von der Domaine Jean-Claude Ramonet (216 €).

Mit all diesen Vorzeichen startet mein Déjeuner mit ersten Amuse-Bouches. Mit dem geschmackvollen Geschirr von Hering und Gläsern von Zalto und Baccarat unterstreicht man einen hohen ästhetischen Anspruch.

Eine Auster von exzellenter Qualität aus Mont-Saint-Michel mit belebender Zitrone, knuspriger Haselnuss und frischem Austernblatt schmeckt wundervoll nach Ozean (8,5/10); ein Gougère mit einer Comté-Sauce Mornay ist warm, cremig, feinknusprig und umami (8/10); und eine Tartelette mit Blutwurst, Estragon und Kaviar setzt das erste große Ausrufezeichen mit einer ergreifend eleganten Würze, herzhafter Süße und jodigem Salzakzent (10/10).

Und dann geht es auch schon los mit dem ersten Gang. Ich begrüße das, weil ich ein paar kleine Amuse-Bouches ausreichend finde, um ein Menü einzuleiten.

Den ersten Gang des Menüs leitet eine Wildterrine ein. Diese ist nur wenige Millimeter dünn und quaderförmig auf dem Teller angerichtet, überdeckt von einem Gelee auf Hühnerfondbasis. Darauf hat man eine Vinaigrette mit Senfkörnern und Sellerieöl drapiert, der ein so appetitanregender Duft nach Essig, Senf und Kräutern entströmt, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Das Gericht ist großartig: im Kern klassisch, handwerklich modern, leicht und doch intensiv. Ein dazu separat serviertes dünnes, schneckenförmiges Gebäck mit Steinpilz ist dazu aber entbehrlich. (9/10)

Der nächste Gang widmet sich dem Fasan. Dieser wurde zu einer Royale verarbeitet, d. h. zu einer Art gedämpfter Fasanenmousse. Angerichtet in einer dichten, grünen Sauce auf Mangoldbasis – und mit frisch gehobeltem Alba-Trüffel veredelt –, entfaltet sich ein intensives, erdig-grünes Aroma, das über dem Teller schwebt.

Unverkennbar ist der Mangold, der auch in gedünsteter Form die Vogelfarce begleitet, das eigentliche Leitmotiv des Tellers. Appetitlich säuerlich – ein wenig an Granny-Smith-Äpfel erinnerd –, erdig, mit sanfter Tiefe und subtiler Frische umhüllt der Mangold die wolkig-leichte, milde Fasanenzubereitung. Der Alba-Trüffel liefert dazu eine ätherische Würze. Außergewöhnlich gut. (9/10)

Es geht weiter mit einer handwerklich bemerkenswerten Zubereitung um Ente (Canard Colvert). Diese wurde als Farce verarbeitet und ist zusammen mit Foie Gras in einem Grünkohlblatt als eine Art Roulade angerichtet. Ein Saucen-Trio bestehend aus einem viskosen, »klebrigen« Entenjus, einem Jus gras und einer helleren Sauce mit schwarzem Trüffel erlaubt es, genüsslich in das Gericht einzutauchen. Eine kleine Tartelette mit Kohl und schwarzem Trüffel bringt etwas texturelle Abwechslung. Erneut große Klasse. (9/10)

Rebhuhn (Perdreau gris) – wild, nicht gezüchtet, hebt der Kellner hervor – findet man beim nächsten Gericht in Form des aufgeschnittenen Filets sowie als Keule vor. Die Zubereitungen des Vogels flankieren eine recht üppige Portion verschiedener Saucen und Buchweizen-Crumble. Als fasanenartiges Tier ist auch ein Rebhuhn naturgemäß auf der trockeneren Seite, was sich hier schnell als Manko herausstellt. Das Fleisch ist geschmacklich äußerst neutral, selbst die lackierte Keule bereitet durch die Trockenheit des Tiers wenig Freude. Erstaunlich, dass man das so über den Pass gehen lassen möchte. (6,9/10)

Der nächste Teller ist eine Augenweide. Perfekt auf den Punkt gebratenes Reh mit einer Kruste aus Getreide und Pflanzenkernen ist mittig auf einem mit Senf gewürzten Rotkohlbett in einer Sauce poivrade angerichtet, die bereits die gesamte Reise rechtfertigt. Sie ist samtig, seidig, würzig, floral – ein wahres Meisterwerk. Etwas Koriander steuert zu allem eine ungewöhnliche, aber passend herbe Frische bei. Die Sauce ist derart bemerkenswert, dass das hervorragende Reh fast in den Hintergrund rückt. Vielleicht ist das Grund, dass ich hier »nur« 8,9/10 notiere. Gleichwohl ein denkwürdiges Gericht.

Dann folgt eines der Gerichte der klassischen französischen Haute Cuisine schlechthin: Lièvre à la royale. Das Rezept beginnt bei Paul Bocuse damit, dass man zuerst einen Hasen mit rötlichem Fell in einer Heidelandschaft schießen soll. In dem Rezept wird das Tier dann in einer aufwändigen Marinade mit exzellentem Wein – Bocuse bestand auf Gevrey-Chambertin – stundenlang geschmort, bis es fast zerfällt. Die Schmorsauce wird schließlich mit dem Hasenblut gebunden. Das ganze Procedere führt zu einem opulenten, intensiven Gericht, das im Widerspruch zu den meisten zeitgemäßen kulinarischen Präferenzen steht.

Diese Version von Banctel, bei der der Hase aus der Beauce-Region stammt, ist nichts anderes als grandios. Es ist eine Ode auf das klassische Kochhandwerk, an Nahrungsbeschaffung, an Terroir und an den Genuss. Das zu einem flachen Zylinder angerichtete Schmorfleisch wirkt erstaunlich lebendig, nicht zu zerfallen, mit ausreichend Biss, um gerade nicht breiig oder monoton zu wirken. Die glänzende, viskose Sauce ist erneut großartig. Ich schmecke – natürlich – den Hasen, leicht animalisch, aber von einem besonders aromatischen Pfeffer im Zaum gehalten, dazu leicht metallische Noten vom Blut.

Ich tauche in den Genuss des Gerichts so ein, dass ich die dazu servierten Buchweizen-Spätzle fast verschmähe Der Sommelier stellt dazu ein Glas 1976er Château Evangile auf den Tisch – ein intensiver Moment! (10/10)

Käse vom Wagen lasse ich mir danach auch nicht entgehen. Die kompakte Auswahl klassischer französischer Rohmilchkäse ist perfekt; ich wähle vier Sorten und einige Condiments. Exzellentes Sauerteigbrot, das man hier von einer Pariser Bäckerei bezieht, steht ebenfalls noch auf dem Tisch, es wird aber noch weiteres Brot dazu serviert. Den Großteil des Käses genieße ich jedoch pur.

Die Patisserie macht keine Umwege über ein Pré-Dessert, sondern serviert ihren Aufschlag gleich als As. Blanchierte Kiwi wird hier mit verschiedenen Zubereitungen um Perilla, Joghurt und dem Kräuterlikör Chartreuse serviert. Eine ähnliche Kombination gab es bei meinem letzten Essen hier auch, doch das Resultat trennen in diesem Fall Welten. Diese Ausführung des Desserts begeistert mit einer verführerischen Cremigkeit, einer elegant justierten Süße und einem bemerkenswerten Einsatz des Kräuterlikörs, der mit der verwendeten Perilla eine Symbiose eingeht und für das Dessert so unerlässlich ist wie Rum bei einem Baba. Großes Kiwi-Kino. (10/10)

Auch die Petit-Fours machen alles richtig und setzen auf klassisch französische Patisseriekunst. Eine bildhübsch drapierte Tartelette mit schwarzer Johannisbeere, Olivenöl und Blüten schmeckt wie eine auf seine Essenz komprimierte Früchtetarte; eine Religieuse mit Vanillecreme schmeckt kurzweilig nach Popcorn, und eine Art Marshmallow mit Schokolade und Passionsfrucht bereitet fruchtig-herbes Dessertvergnügen. Dass man hier mit der Patisserie nicht noch mal ein ganz eigenes Menü auffährt, finde ich konzeptionell erneut besonders gelungen. (9/10)

Heißt mein neuer bester Freund jetzt Wild? Nein. Bleibe ich mit der Idee befreundet, für derartig feine Menüs nach Paris zu fliegen? Unbedingt. Also, à la prochaine.

Informationen zu diesen Besuchen
Restaurant: Le Gabriel (→ Website)
Chef de Cuisine: Jérôme Banctel
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 08.11.2024
Guide Michelin (Frankreich 2024): ***
Meine Bewertung dieses Essens: 8,9 (Was bedeutet das?)
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